Wir sind die Nacht
Edelholz, das sich als nur wenige Millimeter dicke Kunststoffplatte entpuppte, und riss sie herunter. Die Klappe, die Lena bisher vermisst hatte, kam dahinter zum Vorschein. Irgendwie gelang es Charlotte, sich mit einer Hand an der scheinbar so glatten Decke festzuklammern. Mit der anderen hämmerte sie mit solcher Gewalt gegen die Klappe, dass sie aus ihren massiven Angeln gerissen und davongeschleudert wurde. Lena konnte hören, wie sie irgendwo in der Dunkelheit dort oben gegen die Drahtseile und danach gegen die Wand prallte.
Charlotte verschwand so elegant und lautlos wie ein Schatten durch die rechteckige Öffnung, fuhr herum und streckte den Arm aus, um Lena in die Höhe zu helfen.
Nahezu vollkommene Dunkelheit umgab sie. Die Luft roch nach Staub und Öl, und irgendetwas floh raschelnd auf winzigen krallenbewehrten Pfoten vor den beiden Eindringlingen in sein schattiges Reich.
Lena sah sich mit klopfendem Herzen um. Ihre Augen gewöhnten sich rasch genug an das kaum vorhandene Licht, um sie erkennen zu lassen, dass es da noch etwas nicht gab, was man in jedem zweiten Hollywoodfilm sah: eine Leiter. Graue Wände voller Schmutz und Schimmel führten über ihnen noch gute drei Stockwerke weit in die Höhe, aber da waren weder eine Leiter noch irgendwelche Trittstufen.
»Könnt ihr - können wir … «, verbesserte sie sich, »zufällig auch noch fliegen?«
Charlotte bedachte sie nur mit einem flüchtigen Blick und sah dann weiter nach oben. Lena beäugte misstrauisch das ölverschmierte Paar daumendicker Drahtseile, an dem die Liftkabine
hing. Sie bezweifelte, dass sie trotz ihrer neu erworbenen Kräfte daran hochklettern konnte.
»Nein«, antwortete Charlotte mit einiger Verspätung. »Aber du kannst dich festhalten, oder?« Sie bedeutete Lena, hinter sie zu treten und die Arme um ihren Hals zu legen. Kaum hatte Lena das getan, trat Charlotte an die Wand heran und huschte scheinbar mühelos an dem glatten Beton nach oben. Lena war so überrascht, dass sie sich schon vor lauter Schrecken noch heftiger festklammerte und Charlotte sicherlich die Luft abgeschnürt hätte … hätte sie Luft zum Leben benötigt. Aber noch während sie versuchte, mit der Mischung aus Schrecken und Unglauben fertigzuwerden, musste sie auch an etwas anderes, sehr viel Unheimlicheres denken: den Umriss einer unsichtbaren geduckten Kreatur mit dürren Spinnengliedern, der von silbernem Regen an der Wand nachgezeichnet wurde.
Die Vorstellung war so schlimm, dass sie Charlotte um ein Haar losgelassen hätte, und vielleicht hätte sie es sogar getan, hätten sie ihr Ziel nicht in diesem Moment auch schon erreicht. So geschickt und sicher wie ein riesiges vierbeiniges Insekt klammerte sich Charlotte an die zerschrammte Innenseite der Aufzugtür, hielt sich dann nur noch mit einer Hand fest und benutzte die andere, um die Türhälften mit schierer Gewalt auseinanderzuzwingen. Dezente Musik und die unverwechselbare Atmosphäre eines wirklich teuren Hotels umgaben sie, als sie aus dem Liftschacht herauskletterten. Es waren nirgends Polizisten zu sehen.
Charlotte deutete nach links zur Treppe hin, und Lena antwortete mit einem wortlosen Nicken.
Sie waren nicht im obersten Stockwerk ausgestiegen, sondern eine Etage darunter. Der Feueralarm schrillte auch hier, und Lena hätte erwartet, den Flur voller aufgeregter Gäste zu finden, die am Rand der Hysterie dahinschlitterten, aber es war
beinahe unnatürlich ruhig. Selbst der Feueralarm klang gedämpft und wie etwas, was nicht hierher gehörte.
Charlotte schlich (überflüssigerweise) geduckt zur Treppe, lauschte dort einen Moment und bedeutete ihr dann gestenreich, zurückzubleiben. Dann war sie im Bruchteil eines Augenblicks einfach so verschwunden.
Lena ließ immerhin eine gute Sekunde verstreichen, bevor sie ihr langsam folgte. Auf den letzten Stufen wurden ihre Schritte noch langsamer, weil sie sich vor dem fürchtete, was sie am oberen Ende der Treppe vorfinden würde.
Zu Recht, wie es im ersten Moment aussah. Eine reglose Gestalt mit Panzerweste und Helm lag so dicht hinter der Treppe, dass sie um ein Haar über sie gestolpert wäre, und eine zweite nur wenige Schritte daneben. Zuerst erschrak sie, doch noch bevor sie sich nach dem Mann bücken konnte, spürte sie die Verlockung des Lebens in ihm. Er war nur bewusstlos, nicht tot.
Obwohl sie Charlotte nur wenige Sekunden Vorsprung gelassen hatte, hatte diese inzwischen die Tür zur Suite erreicht und auch die drei Polizisten
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