Wir sind die Nacht
auch die Muskeln an, um ihre Fesseln zu testen. Sie saßen so stramm, dass es schon beinahe wehtat, und sie glaubte nicht, dass ihre Kraft ausreichte, um sie zu zerreißen.
»Deinen Schlüssel!«, sagte Lummer, als Tom neben sie trat und sie am Arm ergreifen wollte, um sie hinauszuführen. Er hatte sie die ganze Zeit über kein einziges Mal direkt angesehen, und er wich ihrem Blick auch jetzt weiter aus.
»Was soll das?«, fragte er unwirsch.
»Ich will nur sichergehen, dass nichts Dummes passiert«, antwortete Lummer. Er streckte fordernd die Hand aus. »Du hast ihre Akte doch gelesen, oder? Die Kleine hat geschickte Finger.«
»Quatsch!«, murmelte Tom, griff aber dann doch gehorsam in die Hosentasche und zog einen winzigen Schlüssel heraus, den er seinem Kollegen reichte. Lummer schloss demonstrativ die Faust darum und machte dann eine auffordernde Kopfbewegung zur Tür.
»Lass dir nicht zu viel Zeit«, sagte er. »Wir müssen in zwanzig Minuten weg. Spätestens.«
In zwanzig Minuten, dachte Lena, würde sie gewiss nicht
mehr hier sein. Sie würde verschwinden. Die Handschellen stellten ein Problem dar, aber sie war sich sicher, dass sie es lösen konnte. Schlimmstenfalls musste sie Lummer eben davon überzeugen, dass es zuträglicher für seine Gesundheit war, sie aufzuschließen … aber zuerst musste sie noch einmal mit Tom reden.
Obwohl sie nicht genau wusste, worüber.
Sie verließen das Verhörzimmer und gingen schweigend den Flur entlang. Als sie an einer nur angelehnten Tür vorbeikamen, sah sie, dass ihre Vermutung richtig gewesen war: Dahinter lag eine kleine Polizeiwache, die vermutlich schon mehr Jahre auf dem Buckel hatte als Tom, sie und alle anderen in diesem Gebäude zusammen. Ein Telefon klingelte, murmelnde Stimmen drangen an ihr Ohr, und auf einer vermutlich bewusst unbequemen Bank am anderen Ende des Raums saß ein langhaariger Junge in einer zerschlissenen Lederjacke und bemühte sich mit wenig Erfolg, die Angst zu überspielen, die sie in ihm spürte. Aus einem unerfindlichen Grund roch es intensiv nach Krankenhaus, und aus einem bloßen Reflex heraus zählte Lena die uniformierten Gestalten, die sie sah: Es waren vier, und die junge Polizeibeamtin, die sie aus der Zelle heraufgebracht hatte, war nicht bei ihnen. Also mindestens fünf. Lena war plötzlich nicht mehr ganz so optimistisch, es tatsächlich mit dieser Übermacht aufnehmen zu können.
Sie betraten einen kleinen, muffig riechenden Raum, der vor uralten Aktenschränken und Regalen schier überquoll. An einer der Wände war ein bis zur Decke reichendes Holzlineal angebracht, dessen Beschriftung fast zur Unleserlichkeit verblasst war, und in einer Ecke stand eine kleine Digitalkamera auf einem dreibeinigen Stativ. Tom schloss die Tür hinter sich, und Lena machte rasch die drei Schritte bis zur Wand, drehte sich herum und hob die aneinandergeketteten Hände vor die Brust. »Wenn ich jetzt ein Schild mit einer ellenlangen Nummer
in die Höhe halten soll, musst du mich schon losbinden«, sagte sie. »Sieht sonst auf dem Foto ziemlich blöd aus.«
Tom antwortete nicht. Er sah so hilflos aus, dass er ihr einfach nur noch leidtat.
»Du solltest auf deinen Kollegen hören und ein paar Fotos von mir machen«, sagte sie. »Nicht dass du noch mehr Ärger bekommst.«
»Warum tust du das?«, fragte Tom. Er klang nicht zornig oder vorwurfsvoll, sondern einfach nur traurig.
»Was?«
»Das alles«, antwortete er. »Du bist doch keine Verbrecherin! Was hast du mit diesen … diesen Russen zu tun, und diesen drei Frauen? Wer sind sie?«
»Was wird das jetzt?«, fragte Lena. »Die Fortsetzung des Verhörs? Deshalb wollte ich nicht mit dir sprechen.«
»Das solltest du aber lieber tun«, erwiderte Tom. »Ist dir eigentlich klar, in was deine angeblichen Freundinnen dich da reingezogen haben?«
»Sie sind nicht meine Freundinnen«, sagte Lena.
»Ich weiß«, sagte Tom. »Sie sind niemandes Freundinnen. Du hättest dich nie mit ihnen einlassen dürfen.«
»Jetzt hörst du dich an wie meine Mutter«, sagte Lena - was weder der Wahrheit entsprach noch im Geringsten komisch war. Tom schüttelte auch nur ärgerlich den Kopf.
»Wenn das stimmt, dann hättest du auf sie hören sollen«, sagte er. »Wir beobachten diesen Club schon seit Jahren. Bisher konnten wir ihnen nichts nachweisen, aber es gab schon lange den Verdacht, dass sie irgendwas mit Gusows Organisation zu tun haben.«
»Das haben sie nicht«, sagte Lena überzeugt. »Im
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