Wir sind die Nacht
kämpfte sie sich in die Höhe und blinzelte so lange, bis ihre verklebten Augenlider nicht mehr, wie von unsichtbaren Zentnerlasten gezogen, herabsinken wollten.
Im Osten war bereits ein dünner weißer Strich aus feindseliger Helligkeit am Horizont erschienen. Irgendwo vor ihnen erhob sich etwas Großes und Dunkles wie eine Mauer aus Schwärze, hinter der die Nacht dem heraufziehenden Tag einfach trotzte - Lena konnte nicht sagen, ob es ein Waldstück oder etwas so Bizarres wie eine mittelalterliche Stadtmauer war -, und aus den Lautsprechern drang leise melancholische russische Musik. Es war kalt. Auf Lenas nackten Unterarmen bildete sich sofort eine Gänsehaut, und die getönten Scheiben ringsum waren leicht beschlagen, als hätte Louise die Klimaanlage bis zum Anschlag aufgedreht.
»Oh, unsere Schlafmütze ist endlich wach.« Louise drehte sich halb auf dem Beifahrersitz herum. Das teure Leder knarrte. »Gerade wollte ich anfangen, mir wirklich Sorgen um dich zu machen.«
Lena sah sie nur verständnislos an. Aber nach dem, was hinter ihnen lag, kam ihr Louises aufgesetzte Fröhlichkeit irgendwie unangemessen vor, fast schon wie eine Provokation. Statt jedoch irgendetwas in dieser Art zu sagen, fragte sie nur: »Wo sind wir?«
»Gleich da«, sagte Louise. »Bedank dich bei Charlotte. Sie ist ziemlich tief geflogen.« Sie kicherte. »Unser Freund Stepan wird Gift und Galle spucken, wenn er all die Strafzettel bekommt. Ich habe drei Radarfallen gezählt - und du?«
Charlotte antwortete nur mit einem Achselzucken.
»Immerhin kann er behaupten, er wäre nicht gefahren, und kommt damit wahrscheinlich sogar durch«, sinnierte Louise, »wenn er die Radarfotos als Beweis vorlegt.«
»Und spätestens dann weiß er, wo wir sind«, fügte Lena hinzu.
Louise wirkte ein bisschen überrascht, dann fast beeindruckt. »Unser Nesthäkchen lernt schnell.«
»Bis dahin sind wir längst nicht mehr hier«, sagte Charlotte. »Wir bleiben nicht lange.«
Sie hatten die Wand aus Dunkelheit erreicht, die sich tatsächlich als ein Wald entpuppte, durch den die Straße wie eine unsauber verschorfte Messernarbe schnitt. Charlotte nahm den Fuß vom Gas, aber sie fuhren noch einen guten Kilometer in zügigem Tempo dahin, bis sie eine Abzweigung erreichten. Sie war so schmal, dass Charlotte um ein Haar daran vorbeigefahren wäre, und der Weg wurde noch einmal schlechter. Der Bentley schrammte jetzt an beiden Seiten an Gebüsch und vorstehenden Ästen entlang.
Der Weg führte ein gutes Stück in den Wald hinein und endete schließlich vor einem großen schmiedeeisernen Tor, das in einer drei Meter hohen Ziegelsteinmauer eingelassen war. Charlotte hielt an und betätigte die Lichthupe, woraufhin sich in einem kleinen Gebäude auf der anderen Seite des Tores eine Tür öffnete und ein dunkel gekleideter Mann heraustrat. Er hob die Hand und winkte ihnen zu, und Charlotte erwiderte die Geste mit einem weiteren Aufblenden der Scheinwerfer. Ganz sicher sein konnte Lena sich nicht, dass es ein Mann war, denn die Gestalt trug einen knöchellangen schwarzen Umhang mit Kapuze, die sie weit in die Stirn gezogen hatte. Wo um alles in der Welt hatte Charlotte sie hingebracht? In Draculas Spukschloss in den Karpaten?
Sie wartete halbwegs darauf, dass die Gestalt eine altmodische Sturmlaterne unter dem Mantel hervorzog (warum nicht gleich eine Fackel?), doch stattdessen ließ sie eine starke Taschenlampe aufflammen, deren Anblick zwar unangenehme Erinnerungen in Lena weckte, sie aber zugleich auch erleichtert
aufatmen ließ. Vielleicht eine Spur zu laut, denn Louise drehte sich schon wieder zu ihr um und runzelte ein bisschen besorgt die Stirn. Aber sie sagte nichts, während der Pförtner einen der großen Torflügel aufzog und Charlotte den Wagen vorsichtig hindurchbugsierte.
Hinter dem Tor erstreckte sich ein weitläufiger Park, in dessen Mitte sich ein sehr großes, pittoresk anmutendes Gebäude erhob; möglicherweise auch mehrere, das war im schwachen Licht der heraufziehenden Dämmerung nicht genau zu sagen. Vielleicht war es irgendwann einmal ein Schloss gewesen. Nur hinter einem einzigen Fenster brannte Licht, was den Anblick noch unheimlicher machte.
Charlotte fuhr zügig weiter, bog aber dann in einen schmaleren Seitenweg ein und lenkte den Wagen auf die Rückseite des weitläufigen Gebäudekomplexes. Aus der Nähe betrachtet, entpuppte er sich tatsächlich als eine Art verrückter Mischung aus Märchenschloss und Herrenhaus - drei
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