Wir sind die Nacht
öffnete die Heckklappe des Hummer. Dahinter kam eine erstaunlich kleine Ladefläche zum Vorschein, die fast zur Gänze von zwei großen Aluminiumkoffern und den beiden Reisetaschen ausgefüllt wurde, die sie in der Bank dabeigehabt hatten. Sie hob die beiden Metallkisten heraus und bedeutete Charlotte mit einer Kopfbewegung, die Taschen zu nehmen. Dann wandte sie sich wieder zu Lena um.
»Lebt da drinnen noch jemand?«, fragte sie mit einer Kopfbewegung zur Wache.
Lena spürte sogar selbst, dass sie eine Winzigkeit zu lange zögerte, bevor sie den Kopf schüttelte. Und die Bewegung war auch viel zu heftig.
»Ich verstehe«, sagte Louise, während sie die beiden Koffer absetzte. Noch sehr weit weg, aber näher kommend, erklang ein an- und abschwellendes Heulen. Eine Polizeisirene. Vielleicht mehr als eine. »Dein kleiner Freund. Das muss aufhören.«
»Nein!«, sagte Lena erschrocken. »Du darfst ihm nichts tun!«
»Der Junge wird allmählich zum Problem«, erwiderte Louise kühl. »Für einen Menschen ist er verdammt clever. Und ziemlich hartnäckig.«
»Tu ihm nichts!«, sagte Lena beharrlich. »Das lasse ich nicht zu!«
»Ach nein?«, sagte Louise. »Und was willst du dagegen unternehmen?«
»Er ist keine Gefahr!«, stieß Lena verzweifelt hervor. »Du hast es selbst gesagt: Er ist nur ein Mensch!«
»Er wird nie aufgeben. Glaubst du, es ist das erste Mal, dass ich so etwas erlebe? Ich kenne das. Er wird nie aufgeben. Er wird es zu seiner Lebensaufgabe machen, dich zu finden.«
»Dann warten wir eben, bis sein Leben vorbei ist!«, antwortete Lena verzweifelt. »Du hast es selbst gesagt: Zeit spielt für uns keine Rolle! Ich … ich verspreche dir, dass ich ihn nie wiedersehe! Ich komme mit dir. Ich tue alles, was du willst, wirklich alles - aber du darfst ihm nichts tun! Wenn du ihm etwas antust, dann siehst du mich nie wieder!«
Louise sah sie durchdringend an. Lange.
»Du meinst das ernst, habe ich recht?«, fragte sie schließlich.
Lena nickte.
»Du liebst diesen kleinen Pisser wirklich«, sagte Louise verächtlich.
Lena antwortete nicht darauf. Aber sie hielt Louises Blick stand, ganz gleich, wie schwer es ihr auch fiel.
Das Wimmern der Polizeisirene war näher gekommen, und Lena war sich jetzt sicher, dass es mehr als nur eine war.
»Louise«, sagte Charlotte drängend.
»Du meinst es ernst«, sagte Louise. Sie klang traurig. »Du meinst das wirklich ernst. Also gut. Ich weiß zwar, dass ich gerade einen Fehler begehe, den ich noch bitter bereuen werde. Aber der Handel gilt: Ich lasse ihn am Leben, und du siehst ihn nie wieder. Wenn er mir noch einmal unter die Augen kommt, dann töte ich ihn, selbst wenn es bloß Zufall ist.«
Lena sagte auch jetzt nichts dazu, aber das schien Louise als Antwort zu genügen. Sie griff nach den beiden Koffern und ging mit schnellen Schritten los.
31
War ihr der Hummer als Fluchtfahrzeug schon auffällig genug vorgekommen, so erschien ihr der Wagen, mit dem Stepan vorgefahren war, schon beinahe absurd: ein weißer Bentley, der sich ungefähr so unauffällig wie ein weißer Wal in einer Schule Heringe durch den nächtlichen Verkehr bewegte. Nicht einmal eine Minute nachdem Charlotte das riesige Gefährt in den fließenden Verkehr hineingesteuert hatte, waren ihnen zwei Polizeiwagen mit heulenden Sirenen entgegengekommen und nur wenige Augenblicke später ein kompletter Mannschaftswagen. Aber das Wunder war geschehen: Niemand hatte sie aufgehalten, und nicht einmal eine halbe Stunde später hatten sie die Stadt in östlicher Richtung verlassen.
Charlotte jagte den schweren Wagen in geradezu halsbrecherischem Tempo durch die Nacht, und sie erreichten ihr Ziel gerade noch im letzten Grau der Dämmerung. Die letzten guten zwei Stunden war es über immer schmaler werdende und immer schlechtere Straßen gegangen, und nicht nur die beständig kleiner und schäbiger werdenden Ortschaften und fremden Straßenschilder machten irgendwann klar, dass sie das Land verlassen hatten und immer weiter nach Osten fuhren.
Lena hatte den Großteil der Nacht schlafend auf der Rückbank verbracht. Sie war in einen unruhigen, von Albträumen, wirren Bildern und Angst in ihrer reinsten Essenz heimgesuchten Schlaf gefallen, aus dem sie nur ein paarmal hochgeschreckt
war, wenn Charlotte den Wagen durch eine Kurve jagte oder ruckartig abbremste. Sie war desorientiert, hatte rasende Kopfschmerzen und fühlte sich so schwach, als wären ihre Glieder mit Blei gefüllt. Dennoch
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