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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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auf dem Tisch schrillte. Das hatte es die ganze Zeit über immer wieder getan, bisher hatte Louise es beharrlich ignoriert. Jetzt riss sie den altmodischen Hörer von der Gabel und zischte ein einzelnes Wort in die Sprechmuschel. Einen Moment lang - in dem sich ihr Gesichtsausdruck noch mehr verdüsterte - lauschte sie, dann fauchte sie in einer rau und östlich klingenden Sprache in den Hörer, um ihn anschließend auf die Gabel zurückzuknallen. Louise funkelte sie an, als hätte sie in ihr gerade die alleinig Schuldige an allem Unglück der Welt ausgemacht.
    »Idioten!«, fauchte sie. »Verdammtes hinterwäldlerisches, abergläubisches, blödes, dämliches Pack!«
    »Wer?«, fragte Lena.
    »Diese dämlichen Trottel da unten! Ein bisschen Licht und Feuerzauber, und schon geraten sie in Panik!«
    »Sie werden die Flammen gesehen haben und die Explosion«, sagte Lena. »Wahrscheinlich machen sie sich Sorgen. Ein Feuer in einem Altenheim ist nicht besonders lustig.«
    »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Louise eisig. »Was hast du damit gemeint: Vielleicht ist das genau der Grund, aus dem sie nicht zu mir gekommen ist?«
    Was immer Lena jetzt sagen konnte, würde alles nur schlimmer machen. Vielleicht war das einzig wirklich Vernünftige, was sie in diesem Moment sagen konnte, das, was sie von Anfang an hätte sagen sollen, nämlich gar nichts.

    »Also?«
    Sie wollte nicht antworten, aber in Louises Blick war plötzlich etwas, was sie dazu zwang. »Ihre Tochter ist gestorben.«
    »Und?«, fauchte Louise. »Sie wusste, dass das passiert. Wir sind aus keinem anderen Grund hierher gekommen! Verdammt, ich habe diesen überflüssigen, gefährlichen Umweg aus keinem anderen Grund gemacht! Sie wollte Abschied nehmen, und ich dumme Kuh war sentimental genug, um ihr diesen albernen Wunsch zu erfüllen.«
    »Sie war ihre Tochter!«, erwiderte Lena entsetzt. »Ihr einziges Kind!«
    Louise machte ein abfälliges Geräusch. »Sie war lediglich ein Mensch.«
    »Sie war ihre Familie. Alles, was sie noch hatte!«
    Louises Gesicht verzerrte sich so sehr vor Zorn, dass es kaum noch etwas Menschenähnliches hatte, dann stampfte sie ihre Zigarette so fest in den Aschenbecher, dass rote Funken in alle Richtungen stoben.
    »Wir sind ihre Familie!«, schrie sie. »Sie hat uns verraten! Sie hatte kein Recht dazu!«
    Lena wollte auffahren, aber sie begriff gerade noch rechtzeitig, dass es lediglich Charlottes geerbter Zorn war, den sie spürte. Sie hatte Charlotte ihre Menschlichkeit aberkannt, und dieser Gedanke saß wie ein quälender Stachel in ihrem Fleisch, aber es war gerade die vermeintliche Kälte in Louises Worten, die ihrem Zorn sogleich wieder den Boden unter den Füßen entzog. Louise konnte nicht begreifen, was Charlotte getan hatte, denn es war genau so, wie sie es vorhin selbst gesagt hatte: Sie war kein Mensch. Wenn sie es jemals gewesen war, dann vor so langer Zeit, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte.
    »Sie hat uns nicht verraten«, sagte Lena, so sanft sie konnte. »Das hatte nichts mit uns zu tun. Ich glaube, sie hatte keine andere Wahl.«

    Louise setzte zu einer Entgegnung an, fuhr dann aber nur auf dem Absatz herum und ging mit abgehackten kleinen Schritten im Zimmer auf und ab; Bewegungen, die Lena auf unheimliche Weise an das Staksen eines menschengroßen Insekts erinnerten. Mit einer schlangenhaft schnellen Bewegung klaubte Louise auf einmal ein Buch vom Tisch, das Lena als einen der antiquarischen Schinken erkannte, wie Charlotte sie so gern gelesen hatte.
    »Dieser verdammte … Mist!«, keuchte Louise. »Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass sie sich den Kopf mit diesem Müll vollstopft!« Wütend riss sie einzelne Seiten aus dem Buch und verstreute sie überall im Zimmer. »Dieser verdammte romantische Scheiß hat sie umgebracht!«
    »Sie hat den Tod ihrer Tochter nicht verkraftet«, sagte Lena. »Das hätte ich auch nicht. Nicht so.« Warum um alles in der Welt versuchte sie eigentlich, Louise zu trösten?
    »Ach ja?«, fauchte Louise. Ihre Augen schienen zu lodern, und selbst ihre Stimme hatte nun etwas Insektenhaftes. »Weil du ja unsere Spezialistin auf diesem Gebiet bist, wo du ja schon so viele Kinder bekommen hast, nicht wahr?«
    »Keine Mutter würde so etwas ertragen.«
    »Und du? Erträgst du es noch?«
    »Was?«, fragte Lena alarmiert.
    »Alles!«, schnappte Louise. Sie wedelte wie ein großer, aufgebrachter Vogel zornig mit den Armen. »Das ewige Leben, das ich dir geschenkt

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