Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
Vom Netzwerk:
lange sie wie erstarrt vor dem offenen Schrank gehockt hatte, die Hand nach der schmalen Uhr ausgestreckt, ohne dass sie den Mut aufgebracht hatte, die Bewegung zu Ende zu führen. Sekunden, die sich zu Ewigkeiten dehnten, vielleicht auch Stunden, die zu Sekunden zusammenschmolzen. Noch vor einem Augenblick hatte sie nichts anderes gewollt, als zu flüchten, von hier zu verschwinden und diesen Albtraum irgendwie hinter sich zu lassen, und wenn es sie das Leben kostete. Jetzt spielte nichts mehr davon eine Rolle. Louise hatte sie belogen, und zwar von Anfang an. Sie hatte mit ihr gespielt, sie benutzt und manipuliert, und all ihre Versicherungen, niemals etwas von ihr zu verlangen, was ihrem freien Willen widerspreche, waren nichts als Lüge gewesen. Sie
hatte ihr alles genommen, ihre Heimat, ihre Mutter, Mehmet, Tom, ihr Leben. Und diese erbärmliche Existenz, die sie ihr dafür gegeben hatte, sollte ein Ersatz dafür sein?
    Sie würde sie töten. Sie wusste nicht, wie, und ihr war völlig klar, dass sie diesen Vorsatz vermutlich mit dem Leben bezahlen würde, aber das war gleich. Wenn sie die Welt von dieser Kreatur befreite, dann war es ihr eigenes Leben allemal wert.
    Ihr Verstand meldete sich zu Wort und erklärte ihr, wie lächerlich gering ihre Aussichten waren, es in einer direkten Konfrontation mit der uralten Vampirin aufzunehmen, die um so vieles stärker war als sie. Ihr Zorn verlangte nach Blut, nicht um sich daran zu laben, sondern nur um es zu vergießen, Louise für das bezahlen zu lassen, was sie ihr, ihrer Mutter, Mehmet und Tom angetan hatte, aber das würde ihr nicht gelingen, wenn sie sich einfach blindlings auf sie stürzte. Sie musste am Leben bleiben und zu Kräften kommen (sie wusste noch nicht, wie, aber es musste einfach einen Weg geben, ohne das Blut Unschuldiger zu vergießen) und ihr eine Falle stellen.
    Wieder meldete sich der logische Teil ihres Denkens, und jetzt klang er eindeutig spöttisch. Das war genauso albern wie alles andere. Das Einzige, was sie jetzt erreichen konnte, war, am Leben und in Freiheit zu bleiben. Und vielleicht nicht einmal das, wenn sie weiter hier herumhockte und sich in wüsten Rachefantasien erging.
    Obwohl ihr klar war, damit einen weiteren - und vielleicht sogar den bisher größten - Fehler zu begehen, nahm sie die Uhr heraus, ging ins Kaminzimmer zurück und legte sie so auf den Tisch, das Louise sie sofort sehen musste, wenn sie aus dem Lift kam. Auch das war dumm, aber sie konnte nicht anders.
    Kaum eine Minute später war sie oben auf der Dachterrasse und näherte sich mit klopfendem Herzen der Stelle, an der Charlotte gestorben war. Die Sonne war jetzt endgültig untergegangen, aber es war noch nicht vollends dunkel. Graues
Zwielicht lag über dem Dach und dem angrenzenden Park, und ein sonderbares Gefühl beschlich sie, als sie über den grauen Staub schritt, der als Einziges von Charlotte übrig geblieben war und vermutlich ohnehin nur in ihrer Einbildung existierte, und wieder überkam sie eine flüchtige, aber tiefe Trauer.
    Sie schüttelte den Gedanken ab. Für solcherlei Gefühle war jetzt keine Zeit. Rasch stieg sie über das schmiedeeiserne Gitter, ließ sich in die Hocke sinken und beugte sich vor - die linke Hand fest um einen der Eisenstäbe geschlossen -, um an der Flanke des Turmes hinabzublicken. Er kam ihr so hoch vor wie ein Berg und trotz der zahlreichen Fenster, Erker und Vorsprünge glatt wie ein Spiegel. Eine Sekunde lang erwog sie den verrückten Gedanken, sich einfach fallen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass ihr fantastischer Körper auch einen Sturz aus gut dreißig Metern Höhe schadlos überstehen würde, sah aber dann selbst ein, wie närrisch das war. Außerdem gab es einen anderen und vermutlich weit weniger schmerzhaften Weg. Schließlich hatte sie selbst gesehen, wie mühelos Louise und die anderen an senkrechten Wänden herumgeklettert waren. Sie hatten ihr nie verraten, wie dieses Kunststück funktionierte, aber da war plötzlich das beinahe sichere Wissen in ihr, dass es ihr ebenfalls gelingen würde.
    Unendlich langsam beugte Lena sich mit rasendem Herzen weiter vor, löste schließlich die linke Hand von der Eisenstange und tastete über den rauen Stein.
    Ihre Finger fanden Halt.

36
    Natürlich funktionierte es nicht. Auf dem letzten Stück verlor Lena doch den Halt, stürzte gute zehn Meter in die Tiefe und kugelte sich beim Aufprall die linke Schulter aus, was entsetzlich wehtat - wenn auch nicht annähernd

Weitere Kostenlose Bücher