Wir sind die Nacht
so weh, wie es tat, sie sich selbst wieder einzurenken.
Immerhin gelang es ihr, nicht zu schreien, aber sie saß mindestens eine Minute lang da und sammelte neue Kraft. Das Tor und der dahinterliegende Wald schienen ihr plötzlich nicht mehr wenige Hundert Meter entfernt zu sein, sondern mindestens ebenso viele Kilo meter. Und sie war nicht einmal überzeugt davon, tatsächlich in Sicherheit zu sein, selbst wenn sie den Wald mit seinen beschützenden Schatten erreichte. Louise hatte ihr niemals verraten, wie es ihr gelang, sie und ihresgleichen aufzuspüren; und schon gar nicht, über welche Entfernung. Was, wenn sie es überall konnte?
Wenn sie noch lange hier herumsaß und finstere Gedanken wälzte, dachte sie, dann konnte sie Louise diese Frage allerdings auch gleich selbst stellen. Wenn es nicht schon geschehen war, dann befand sich Louise spätestens jetzt auf dem Weg nach oben, um ihr einen Kittel oder ein schickes Omakleid aus dem vorletzten Jahrhundert zu bringen, und sie würde ganz bestimmt nicht zögern, einfach hier herunterzuspringen oder die Wand herabzuspurten. Es war eine ziemlich dumme Idee gewesen, die Uhr zurückzulassen.
Mühsam stemmte sie sich in die Höhe, drehte sich einmal um sich selbst und machte sich dann geduckt auf den Weg zum Tor, als sie weder etwas Verdächtiges hörte noch sah. Vielleicht ließ Louise sie ja gehen, jetzt, wo sie begriffen hatte, dass sie sie niemals mit ihrem Einverständnis haben würde.
Ja, und vielleicht war die Erde ja eine Scheibe, und den Weihnachtsmann gab es wirklich.
Sie legte das letzte Stück rennend zurück und überlegte kurz, den Wächter in seinem kleinen Torhäuschen auszuschalten, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Ob er Louise nun warnte oder sie ihn vorfand, würde kaum etwas an den Rückschlüssen ändern, die sie daraus zog.
Lena schwenkte nach links, sprang nahezu mühelos über die drei Meter hohe Mauer und landete lautlos auf der anderen Seite, allerdings gezielt in einem dornigen Busch, der ihrer Bluse endgültig den Rest gab. Fluchend riss sie sich los und stürmte in den Wald hinein. Dort orientierte sie sich erst einmal. Die schmale Straße lag ein Stück rechts von ihr, und sie folgte ihr mit den Instinkten eines Menschen, der niemals etwas anderes kennengelernt hatte, als Straßen folgen zu müssen.
Es war unnatürlich still, wenn sie von den Geräuschen absah, die sie selbst verursachte, so still, als wäre alles Lebendige geflohen, weil es das Fremde und Gefährliche spürte, zu dem Lena geworden war.
Aber vielleicht war das auch nur Blödsinn. Schließlich war sie ja auch noch nie in einem Wald gewesen; wenigstens nicht in so einem und bei Nacht.
Sie blieb wieder stehen, um zu lauschen. Jetzt hörte sie etwas.
Es näherte sich ein Wagen, was sowohl angesichts der fortgeschrittenen Stunde als auch der abgeschiedenen Lage des Altenheims ungewöhnlich war. Hatte irgendein übereifriger Angestellter vielleicht die Feuerwehr gerufen? Lena konnte sich nicht vorstellen, dass Louise das zulassen würde.
Sie lauschte wieder. Das Motorengeräusch kam noch etwas näher, und schließlich bog der Wagen tatsächlich auf den Waldweg zur Residenz ein.
Ihr allererster Impuls war, sich wieder zurückzuziehen und einfach abzuwarten, bis er vorbeigefahren war, aber ihr wurde sofort klar, wie dumm das wäre. Ganz egal, wer da gerade kam, sie brauchte ein Auto. Gewiss würde derjenige es ihr leihen, wenn sie nur nett genug danach fragte.
Der Gedanke kam ihr abenteuerlich vor, aber sie machte sich trotzdem unverzüglich daran, ihn in die Tat umzusetzen. Ein abgeblendetes Scheinwerferpaar näherte sich aus vielleicht dreißig Metern Entfernung, als sie den schmalen Waldweg erreichte und sich in den Schatten eines überhängenden Busches duckte. Das Motorengeräusch klang jetzt leiser und zugleich merklich angestrengter; wahrscheinlich hatte der Fahrer in einen höheren Gang geschaltet, um möglichst wenig verräterischen Lärm zu machen. Die Feuerwehr war es jedenfalls nicht, die da kam.
Lena wartete, bis der Wagen auf etwa fünf Meter herangekommen war, dann richtete sie sich auf und trat mit einem weit ausgreifenden Schritt auf den Weg hinaus.
Der Fahrer war offensichtlich so schockiert, dass er die obligate Schrecksekunde kräftig überzog, um dann umso fester auf die Bremse zu treten, so dass der Wagen in den vorderen Federn einknickte und auf blockierenden Rädern auf sie zuschoss. Lena wartete bis zum allerletzten Moment, ehe
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