Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
Vom Netzwerk:
beschleunigte sie aber auch noch ihre Schritte und verschwand in der Nacht.

37
    Selbstverständlich warteten Tom und sein Kollege keine fünf Minuten. Schon nach zwei Minuten hielt der Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern vor dem schmiedeeisernen Tor an, aber da hatte Lena den Torwächter bereits ausgeschaltet. Vermutlich würde er erst wieder am Morgen zu sich kommen. Lena stieg in den Wagen, und sie fuhren weiter.
    Aufgewühlt wie sie war, kam ihr die Entfernung jetzt viel größer vor. Der Schatten der Altersresidenz war endgültig zur Silhouette eines verfluchten Märchenschlosses geworden, in dem finstere Zauberer, Drachen und eine böse Hexe hausten. Ihr Verstand versuchte ihr immer vehementer klarzumachen, dass sie sehenden Auges in eine Falle tappte. Louise musste längst gemerkt haben, dass sie nicht mehr da war, und Lena konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie den Wagen und seine Insassen nicht längst bemerkt hatte. Der Wagen rollte über den kiesbestreuten Weg, wobei Tom immer wieder auf die Grasnarbe geriet. Vielleicht war er nervöser, als er zugeben wollte.
    »Wie habt ihr mich überhaupt gefunden?«, fragte sie schließlich, um das erstickende Schweigen nicht noch übermächtiger werden zu lassen.
    Tom schwieg weiter. Lummer hingegen klappte das Handschuhfach auf und zog ein kaum zigarettenschachtelgroßes Gerät mit einem leuchtenden LCD-Monitor heraus. »GPS«, sagte er. »Die Segnungen der modernen Technik.«

    Er reichte Lena das Gerät, und als sie auf dem Bildschirm sah, gewahrte sie einen winzigen rot pulsierenden Punkt. Und ein gleichfarbiges Fadenkreuz, das nahezu damit verschmolzen war.
    »Ihr hättet nicht ausgerechnet Gusows Wagen klauen sollen«, sagte er. »Habt ihr wirklich geglaubt, eine solche Kiste hätte kein Ortungssystem?«
    »Oh«, sagte Lena. Die Wahrheit war, dass ihr dieser Gedanke nie gekommen wäre - und Louise und Charlotte offensichtlich auch nicht. Aber da war noch etwas an dieser Erkenntnis, das sie alarmierte, doch der Gedanke entschlüpfte ihr, bevor sie wirklich danach greifen konnte. Wahrscheinlich spielte es auch keine Rolle. Schweigend gab sie Lummer das Gerät zurück, der es achtlos ins Handschuhfach warf.
    Sie hatten jetzt gut die Hälfte der Entfernung hinter sich. Lena beugte sich zwischen den Sitzen hindurch, um den Weg nach Gefahren abzusuchen, als Tom unvermittelt sagte: »Deine Freundin.« Er verbesserte sich mit einem hastigen Kopfschütteln und versuchte ihren Blick im Innenspiegel einzufangen. Sie konnte sehen, wie er zusammenzuckte, als es ihm nicht gelang, ihr Spiegelbild darin zu erblicken.
    »Louise«, sagte Lena.
    »Louise.« Tom zögerte. »Sie hat dich zu …« Sie konnte ihm ansehen, dass er nach den passenden Worten suchte. »… zu dem gemacht, was du bist, oder nicht?«
    »Mhm«, machte Lena.
    »Und sie kann es auch wieder rückgängig machen?«
    Lena sagte nichts dazu, und ein Schatten huschte über Toms Gesicht, nistete sich in seinen Augen ein und blieb dort. Seine Lippen wurden zu einem schmalen, blutleeren Strich.
    »Wir müssen nicht so sein wie sie«, sagte sie. »Ich muss nicht töten, um zu leben.«
    Tom schwieg, aber Lummer drehte sich umständlich auf seinem
Sitz herum, um sie mit einem Ausdruck leiser Überraschung anzusehen. Lena setzte dazu an, ihre Worte noch einmal zu bekräftigen, brachte aber dann keinen Laut hervor. Vielleicht war es die Wahrheit, vielleicht aber auch nicht. Wer sagte ihr, dass Charlotte sie nicht belogen oder ihr etwas vorgegaukelt hatte, was sie verzweifelt glauben wollte? Noch fühlte sie sich stark, nahezu unbesiegbar und von der gewaltigen Kraft erfüllt, die Charlottes Blut ihr gegeben hatte, und noch bedeuteten die beiden Männer auf den Sitzen vor ihr keine Beute für sie. Aber es würde nicht ewig so bleiben. Was, wenn diese Kraft aufgezehrt war und der Hunger zurückkam?
    Nein, daran wollte sie nicht denken. Nicht jetzt. Wenn es tatsächlich so kam, dann gab es immer noch einen letzten Ausweg. Charlotte hatte ihn ihr gezeigt.
    Tom verdrehte sich den Hals, um ihr einen fragenden Blick zuzuwerfen, und deutete auf die erstbeste beleuchtete Tür. Ohne die Fernbedienung und einen Helfer im Inneren würde sich das Garagentor für sie nicht öffnen. Tom kurbelte am Lenkrad, gab noch einmal Gas und drehte dann den Zündschlüssel herum, um den Wagen das letzte Stück im Leerlauf rollen zu lassen. Das mochte umsichtig sein, aber Lena fragte sich dennoch, ob sie ihm verraten sollte, dass Louise

Weitere Kostenlose Bücher