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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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war es sogar mit diesem kümmerlichen Rest von Sicherheit jetzt vorbei, dachte sie, während sie an den Schrank trat, mit einer fast zornigen Bewegung das Kleid über den Kopf streifte und es, ohne hinzusehen, zielsicher in den Papierkorb pfefferte. Abzüglich des knappen Jahres, das sie jetzt wieder draußen war, war Holden offiziell noch für dreiundzwanzig weitere Monate für sie zuständig, bis die Bewährung um war. Mehr als genug Zeit für ihn, sie gefügig zu machen
und seine kleinen Intrigen zu spinnen. Und irgendwann …
    Der Gedanke erfüllte sie mit einem solchen Ekel, dass sie es nicht über sich brachte, ihn zu Ende zu denken.
    Stattdessen klaubte sie eine frisch Garnitur ihrer normalen »Arbeitskleidung« aus dem Schrank - Jeans, bequeme Turnschuhe und schwarzer Kapuzenpullover -, zerrte Brieftasche und Handy unter dem Gummi ihres Slips hervor und warf beides zu dem Chaos auf ihrem Schreibtisch. Die Brieftasche schlitterte weiter und gesellte sich ganz von selbst zu dem zerknüllten roten Sommerkleid im Papierkorb, als hätte das Schicksal endgültig die Nase voll von ihrer Dummheit und gäbe ihr auf diese Weise einen Wink nicht nur mit dem Zaunsondern gleich mit dem Laternenpfahl, während das Smartphone so liegen blieb, dass die winzige Kamera auf der Rückseite genau auf sie gerichtet war.
    Lena kam eine Idee, die so verrückt war, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte. Sie wandte sich rasch ab, um ihre Kleider anzuziehen.
    Aber sie war nun einmal da und tatsächlich so abwegig, dass sie vielleicht gerade deshalb funktionieren konnte.
    Lena schlüpfte in ihre Schuhe, ließ sich auf die Bettkante sinken, um die altmodischen Schnürsenkel zu binden, und dachte voller Wehmut an die Klettverschlüsse ihrer Sneakers, die jetzt wahrscheinlich schon auf halbem Wege zur Ostsee waren. Dann sah sie noch einmal das Smartphone an. Das Ding war wirklich winzig, und in all dem Chaos auf ihrem Schreibtisch und den Regalböden dahinter würde es ihr nicht schwerfallen, es so zu platzieren, dass es den Großteil des Zimmers aufnahm oder doch zumindest das Bett …
    Die bloße Vorstellung jagte ihr schon wieder einen eisigen Schauer über den Rücken. Vielleicht sollte sie ihre Gefühle ausnahmsweise einmal beiseiteschieben und eine simple Kosten-Nutzen-Analyse
vornehmen: eine halbe Stunde mit Holden plus eine weitere halbe Stunde, in der sie sich ausgiebig die Seele aus dem Leib kotzen und anschließend ausgiebig abschrubben konnte, gegen ein hübsches kleines Video, das ihn mit einer seiner Schutzbefohlenen im Bett zeigte … rein logisch betrachtet war das ein hervorragendes Geschäft, wenn er sie dafür die nächsten zwei Jahre in Ruhe ließ. Und wer weiß … vielleicht war ja dann sogar er derjenige, der einmal die Woche bei ihr antanzte und eine nette dreistellige Summe ablieferte …
    Ein dumpfes Poltern drang durch die dünne Wand, gefolgt vom Wiehern ihrer Mutter und Holdens Lachen. Das Geräusch allein reichte aus, um die Vorstellung von einer verlockenden Idee zu blankem Horror werden zu lassen. Eher würde sie den Kerl umbringen, bevor sie seine schmierigen Hände auf ihrem Körper duldete.
    Trotzig stand sie auf, vergrub das Handy tief im Chaos auf ihrem Schreibtisch und bückte sich dann, um Iwan Iwanowitschs Brieftasche wieder aus dem Papierkorb zu klauben und ebenfalls irgendwo in dem Durcheinander zu verstecken.
    Wieder drang Holdens Lachen durch die Wand, begleitet von einem Schwall anderer Geräusche, über die sie gar nicht nachdenken wollte . War der Kerl tatsächlich verrückt genug, sich an ihre Mutter heranzumachen?
    Sie schaltete ihren Fernseher ein und drehte die Lautstärke hoch, bis sie Holdens Gelächter und das alberne Kichern ihrer Mutter übertönte. Ohne einen Blick auf das Programm zu werfen, trat sie noch einmal an den Schrank heran, kramte einen Autoverbandskasten hervor, den sie irgendwann einmal hatte mitgehen lassen, ohne genau zu wissen, warum, und machte es sich dann mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett bequem, um ihre ramponierte Hand zu verarzten. Sie tat zwar kaum noch weh, sah aber übel aus: Blut und Schmutz waren zu einer
dicken Kruste verklumpt, die es ihr fast unmöglich machte, die Hand zur Faust zu schließen. Sie sollte die Wunde säubern, bevor sie sich zu allem Überfluss auch noch eine Blutvergiftung einhandelte. Aber dazu hätte sie das Zimmer verlassen und an Holden vorbeigehen müssen, und ehe sie das tat, würde sie lieber abwarten, bis ihr die Hand

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