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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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abfaulte.
    So gut sie es mit nur einer Hand konnte, wickelte sie eine Mullbinde um ihre Rechte, zog den Knoten mit der linken Hand und den Zähnen zu und ballte die Finger anschließend prüfend zur Faust. Das tat weh, aber es ging.
    Der Anblick erinnerte sie an einen ähnlichen Schnitt in der Hand eines gewissen gut aussehenden Polizisten, und ein sonderbares Gefühl überkam sie: Erleichterung, als ihr im Nachhinein erst richtig klar wurde, wie knapp es diesmal gewesen war, aber auch ein vollkommen absurdes Bedauern, wenn sie an sein sympathisches Gesicht und vor allem seine dunklen Augen dachte. Es war wirklich total verrückt, aber da war ein Teil in ihr, der tatsächlich bedauerte, nicht von ihm festgenommen worden zu sein, und sei es nur, weil sie dann noch ein wenig länger mit ihm zusammen gewesen wäre.
    Das war so albern, dass sie den Kopf über diese Narretei schüttelte und sogar leise lachte, aber schon im nächsten Moment kehrte das Gefühl mit doppelter Wucht zurück, gefolgt von einer Bitterkeit, die ihr fast die Tränen in die Augen trieb.
    Wie weit war es mit ihr gekommen, dass sie schon ernsthaft in Betracht zog, sich verhaften zu lassen, nur um ein paar zusätzliche Minuten mit einem Mann verbringen zu können, der ihr nicht unsympathisch war?
    Sie spürte, wohin diese Gedanken zu führen drohten, zog den Knoten mit einem Ruck noch fester und wurde mit dem erwarteten grellen Schmerz belohnt, der bis in ihren Ellbogen hinaufschoss, zugleich aber auch die verrückten Gedanken vertrieb.

    Schon um sich abzulenken und nicht erneut in Selbstmitleid zu versinken, schnappte sie sich die Fernbedienung und zappte eine Weile durch die Kanäle, bis sie auf einen Nachrichtensender stieß. Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie etwas über den Zwischenfall vom Nachmittag brachten - obwohl es sie irgendwie auch interessierte, ob vielleicht schon die halbe Rote Armee hinter ihr her war -, aber ein strohdummer russischer Zuhälter und ein kleiner Taschendieb, der die Polizei an der Nase herumgeführt hatte, waren offensichtlich nicht einmal als Lückenbüßer in den Lokalnachrichten gut.
    Dafür gab es einen weiteren Bericht über die Gulfstream, die tatsächlich nur ein paar Kilometer vor der Stadt abgestürzt war. Die Kamera zeigte eine dramatische Aufnahme von zwei kleinen Ölflecken auf dem Wasser, eine spektakuläre Nahaufnahme eines verbogenen Metallteiles von der Größe einer Zigarettenschachtel und einen abschließenden Schwenk über die Silhouette der Stadt, die einem bösen Erwachen wohl nur um Haaresbreite entgangen war. Wie ungemein spannend. Lena fragte sich, für wie viele der ahnungslosen Bürger es vielleicht wirklich besser gewesen wäre, nicht mehr aufzuwachen.
    Sie wollte schon weiterzappen, als der Reporter einen vermeintlichen Augenzeugen vor die Kamera zitierte. Lena war dem Bericht nicht aufmerksam genug gefolgt, um jedes Wort verstanden zu haben, aber an seinem Tonfall war irgendetwas, was sie nun doch noch einmal hinsehen ließ.
    »… genau so, wie ich es sage«, beteuerte der angebliche Augenzeuge gerade, ein pickelgesichtiges Bürschchen von allerhöchstens achtzehn Jahren, das vor lauter Aufregung, im Fernsehen zu sein, unentwegt von einem Bein auf das andere trat. »Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen, und ja, ich weiß, wie es sich anhört, aber ich schwöre, dass es so war.«
    »Sie glauben also, es hat Überlebende gegeben«, insistierte der Reporter, »obwohl Suchmannschaften der Polizei die
Umgebung den ganzen Tag über abgesucht haben, und das erfolglos?«
    »Ich glaube es nicht, ich weiß es«, antwortete Pickelgesicht trotzig. »Und natürlich haben sie die Mädels nicht gefunden, weil die längst weg waren.«
    »Mädels?«, hakte die Stimme des Reporters aus dem Off nach. »Frauen also?«
    »Und ob! Mann, die eine war’ne echte Torte! So was hab ich noch nicht gesehen! Sie und die beiden anderen sind nur ein Stück vom Ufer entfernt im Wasser gelandet! Erst haben wir gedacht, die sind tot, aber dann sind sie wie die Weltmeister zum Ufer geschwommen und einfach rausspaziert, als wär gar nichts gewesen.«
    »Sie meinen, sie sind einfach vom Himmel gefallen?«, fragte der Reporter zweifelnd.
    »Nee, natürlich nicht!«, antwortete der Junge. Er klang ein bisschen beleidigt. »Sie müssen aus dem Flugzeug gesprungen sein.«
    »Mit Fallschirmen?«
    »Ich habe jedenfalls keine gesehen«, sagte er achselzuckend. »Aber das heißt nichts. Wir haben überhaupt erst

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