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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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geschauspielerter Verwirrung und seufzte dann tief.
    »Du armer Kleiner«, sagt er. »Bist du ganz allein? Hast du gar keine Eltern oder wenigstens ein paar Geschwister?«
    »Es lief heute nicht so«, sagte sie.

    »Es lief heute nicht so«, wiederholte Holden. Aus der Küche drang das Scheppern von Gläsern, dann das Geräusch, mit dem der Wasserhahn aufgedreht wurde. Wahrscheinlich musste ihre Mutter erst ein Glas spülen, um ihm sein Bier einzuschenken. Sie selbst trank prinzipiell aus der Flasche.
    »Dabei sollte es gestern doch schon besser laufen, oder?« Holden seufzte sehr tief. »Lenalein, Lenalein, wann wirst du endlich begreifen, wie sehr ich mich für dich ins Zeug lege? Beim Amt, bei der Richterin, bei der Jugendpflegschaft. Weißt du eigentlich, was mich das an Zeit kostet?« Sein Blick wurde bohrend, und obwohl das falsche Lächeln nicht aus seinen Augen wich, war darin zugleich etwas eindeutig Drohendes. »Oder fühlst du dich hier draußen von deinem Alltag überfordert? Das heißt: Vielleicht sehnst du dich ja insgeheim nach dem Halt und den klaren Strukturen des Jugendstrafvollzugs?«
    »Morgen besorge ich den Rest«, antwortete Lena. »Bestimmt …«
    Holdens Hand schnappte um den Fünfziger zusammen und zermalmte ihn zu einen winzigen Ball, den er achtlos in der Jackentasche verschwinden ließ. »Nicht den Rest«, sagte er. »Alles. Das hier betrachte ich großzügig als Säumniszuschlag, Liebes. Ich hatte Unkosten.«
    »Aber …«
    »Ich bin viel zu nett zu euch Mädchen«, fuhr er fort. Jetzt waren seine Augen so kalt wie Glas. »Es ist eine Schande, wie sehr ihr Mädchen meine väterlichen Gefühle ausnutzt. Ich weiß auch nicht, warum ich mir das eigentlich gefallen lasse. Und wie lange noch.«
    Sein Blick ließ ihr Gesicht endlich los, strich über den tiefen Ausschnitt des roten Kleides und blieb dann auf ihrem Bauch hängen. Es hätte der steilen Falte, die plötzlich über seiner Nasenwurzel erschien, nicht bedurft, um Lena klarzumachen, dass er den Umriss der Brieftasche entdeckt hatte, die sich
durch den dünnen Stoff abzeichnete. Ihre Gedanken begannen zu rasen. Wenn er die Brieftasche fand, war sie geliefert. Mit dem Führerschein des Russen - und ihren Fingerabdrücken darauf - musste er nicht einmal lügen, um ihre Bewährung zu knicken. Warum war sie auch so dämlich gewesen, das Ding mit hierher zu bringen?
    Zu ihrer Erleichterung kam in diesem Moment ihre Mutter aus der Küche zurück, ein Glas Bier in der einen und eine geöffnete Flasche in der anderen Hand. Holdens Gesichtsausdruck änderte sich so schlagartig, als hätte er irgendwo in seinem Inneren einen geheimen Schalter umgelegt. Sein Blick ließ das los, was er unter ihrem Kleid entdeckt hätte (oder sich vorstellte), und zugleich wich jegliche Anspannung aus seiner Gestalt.
    »Feierabend!«, seufzte er, fläzte sich mit ausgestreckten Beinen im Sessel zurück und angelte sich das Bierglas aus der Hand ihrer Mutter, als sie ihre wabbelnden Fettmassen an ihm vorbeischob. »Für heute habe ich genug für das Wohl der Allgemeinheit getan.«
    Holden blinzelte ihrer Mutter verschwörerisch zu, und sie reagierte mit einem Gesichtsausdruck darauf, der bei Lena beinahe einen Brechreiz ausgelöst hätte. Sie war ihre Mutter, und es sollte ihr - wenn überhaupt - allenfalls peinlich sein, aber sie empfand etwas vollkommen anderes. Ein Gefühl, für das sie sich schämte.
    Aber das machte alles nur noch schlimmer.
    Mit einem Ruck wandte sie sich um, eilte in ihr Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

4
    Das Zimmer ein Zimmer zu nennen war geschmeichelt: sechs Quadratmeter, die in den ursprünglichen Bauplänen des Gebäudes allenfalls als Speisekammer eingezeichnet gewesen sein konnten und auf der einen Seite noch zusätzlich durch die Dachschräge beschnitten wurden. Platz für einen Kinderschreibtisch, ein schmales Bett und einen ebenso schmalen Schrank. Die Wände waren nackt und voller Stockflecken, und das einzige Licht kam von einer trüben 40-Watt-Birne, die regelmäßig flackerte. Das Zimmer roch genauso schlecht wie das ganze Haus und war feucht.
    Aber es war ihr Zimmer, der einzige Platz auf der Welt, der ganz allein ihr gehörte. Ihre Mutter kam niemals hier herein. Wenn sie etwas von ihr wollte, dann wummerte sie einfach mit der Faust gegen die papierdünne Wand oder rief so laut, dass man es bis ins Erdgeschoss hören konnte. Dennoch war es der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte.
    Aber vielleicht

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