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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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die quälende Übelkeit los.

10
    Über ihr schaukelte eine nackte Glühbirne und beleuchtete eine enge, schmutzige Kammer mit Backsteinwänden und Betonboden. Das war das Allererste, was sie registrierte. Dann den Gestank.
    Wenn sie noch Zweifel daran gehabt hätte, sich weder in ihrem Zimmer noch im Krankenhaus zu befinden, dann hätte sie spätestens dieser erste Eindruck beseitigt. Sie konnte sich nicht einmal ein Dritte-Welt-Krankenhaus im tiefsten Afrika vorstellen, in dem es so aussah, und der Gestank wäre selbst für ihr Dachzimmer zu viel gewesen.
    Unsicher setzte sie sich auf, lauschte in sich hinein und stellte mit leiser Überraschung fest, dass sowohl die Krämpfe als auch Übelkeit und Fieber nahezu verschwunden waren. Aber die Erleichterung darüber hielt nur einen kurzen Moment an. Wenn auch gottlob nicht aus eigener Erfahrung, so kannte sie sich doch hinlänglich genug mit Drogen aus, um zu wissen, dass die harten Phasen des Entzugs in Schüben kamen. Sie hatte einen guten Moment erwischt, das war alles. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie sich darüber freuen sollte. Umso schlimmer würde vermutlich der nächste Schub sein.
    Aber das war alles keine Antwort auf die Frage, wo sie war, und vor allem, wie sie hierher gekommen war.
    Sie dachte darüber nach, doch wo ihre Erinnerungen sein sollten, war nur ein schwarzes Loch, an dessen Grund Dinge
lauerten, die sie zu Tode erschreckt hätten, wäre sie so leichtsinnig gewesen, zu genau hineinzusehen.
    Etwas klapperte, und sie glaubte Stimmen zu hören, aber sie waren zu leise, um die Worte zu verstehen. Vielleicht ein Lachen. Sie schlug die Augen wieder auf, sah an sich hinab und entdeckte die Quelle des widerlichen Gestanks: Sie saß auf einer zerschlissenen Matratze, die nicht nur so roch, als hätte sie mindestens zehn Jahre lang alle nur vorstellbaren Körperflüssigkeiten aufgesaugt, sondern auch so aussah. Gleich daneben ragten zwei rostige eiserne Ringe aus der Wand, und in der Mitte des Raums gab es einen Abfluss im Boden. Nein, sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, wofür diese Matratze und dieser ganze Raum normalerweise benutzt wurden.
    Sie stand auf, stellte erst jetzt fest, dass sie ihren schwarzen Kapuzenpullover nicht mehr trug, und trat an die Tür, um an der Klinke zu rütteln. Zu ihrer Überraschung schwang die Tür so schwungvoll nach innen, dass sie einen Schritt rückwärts machen musste, um nicht schmerzhaft getroffen zu werden.
    Gleich darauf prallte sie noch weiter zurück, weil sie sah, warum die Tür sich so plötzlich geöffnet hatte. Sie stand jetzt mit dem Rücken an der Wand des winzigen Raums, der ihr vielleicht auch nur wegen der riesigen Gestalt, die unter der Tür aufgetaucht war, so winzig vorkam.
    Der Russe war so groß, dass er mit den Schultern fast gegen den Türsturz stieß, obwohl er in stark gebückter Haltung eintrat. Es war derselbe Kerl, der sie niedergeschlagen hatte. Sie musste sein Gesicht nicht sehen, um das zu wissen - diese King-Kong-Statur würde sie nie vergessen -, und sie musste auch nicht seinen Ausweis sehen, um zu wissen, dass es ein Russe war: Wäre sie des Kyrillischen mächtig gewesen, hätte sie sogar seinen Namen gekannt, denn in genau dieser Schrift stand er in dem Führerschein, den sie zusammen mit seiner Brieftasche in ihrem Schrank versteckt hatte.

    »Und ich dachte schon, du wirst gar nicht mehr wach«, sagte er, während er die Tür hinter sich zuzog. »Dabei habe ich doch gar nicht so fest zugeschlagen.«
    Er sprach ein gepflegtes Deutsch ohne die Spur eines Akzents, und hätte er nicht vor einer Stunde versucht, ihr den Magen durch das Rückgrat zu prügeln, dann hätte sie ihn durchaus sympathisch gefunden. Der Kerl war ein Riese und hatte das kantige Gesicht und die harten Züge aller hoch gewachsenen Männer, aber ihm fehlte der brutale Zug, der den allermeisten eigen war. Und wäre sein Blick nicht in einer ganz und gar eindeutigen Art über ihren Körper gewandert, dann hätte sie seine Augen durchaus als freundlich bezeichnet.
    »Haben Sie … hast du mich niedergeschlagen?«, fragte sie überflüssigerweise.
    »Hast du mich beklaut?«, gab er zurück.
    »Nein«, antwortete Lena.
    »Dann hab ich dich auch nicht niedergeschlagen«, sagte er.
    Lena schwieg.
    »Du wirst meine Fragen schon beantworten, Mädchen«, fuhr der Russe fort. »Glaubst du mir das?«
    »Ist das nicht egal?«, fragte Lena. Sie verfluchte sich für das Zittern in ihrer Stimme.
    »Wir können das

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