Wir sind die Nacht
den Leib.
»Hör mir ganz genau zu, mein Freund«, sagte Louise, als wäre gar nichts geschehen. »Ich lasse dich nur aus einem einzigen Grund am Leben. Und ich werde mich nicht wiederholen, also hörst du lieber genau zu. Verstehst du das?«
Der Russe wimmerte immer noch vor Schmerz, zwang sich aber auch ein abgehacktes Nicken ab, das Louise zu genügen schien.
»Du wirst zu Stepan gehen«, sagte sie. »Richte ihm Folgendes von mir aus: Ich weiß nicht, was zwischen ihm und dem Mädchen hier ist, und es interessiert mich auch nicht. Was immer es war, es ist Vergangenheit, und er sollte es besser vergessen. Das Mädchen gehört jetzt zu uns, und wenn er sich mit ihr anlegt, dann legt er sich mit uns an. Hast du das verstanden?«
Wieder vergingen etliche Sekunden, bis sie etwas zur Antwort bekam, das mit viel gutem Willen als Nicken durchgehen konnte. Aus anderen Teilen des Hauses waren Schreie zu hören, hastige Schritte und Türenschlagen.
»Gut«, sagte Louise. »Dann steh jetzt auf und verschwinde. Ich nehme an, du kannst noch gehen. Oder soll Nora dir dabei helfen?«
Anscheinend reichte diese Drohung, um noch einmal ungeahnte Kräfte in ihm zu wecken. Er stemmte sich wimmernd in die Höhe und taumelte an Nora vorbei.
»Bring deine Mädchen hier raus«, rief Louise ihm nach. »Ach ja, und wenn du an einem Telefon vorbeikommst, dann ruf die 112 an. Ich habe das Gefühl, dass hier gleich ein Feuer ausbrechen könnte.«
11
Der Zusammenbruch war total, so endgültig und tief, dass Lena sich weder an irgendetwas von dem erinnerte, was danach geschehen war, noch wie sie hierher gekommen war. Sie lag auf einem unbeschreiblich weichen Bett und genoss das Schmeicheln wirklich teurer Bettwäsche auf der Haut. Gedämpftes Licht drang durch ihre geschlossenen Lider. Hell und gelb, aber ohne Gefahr. Ein schwacher, angenehmer Duft lag in der Luft, und sie hörte leise klassische Musik.
Und sie war nicht allein.
Wer immer bei ihr war, verursachte nicht das mindeste Geräusch. Ihr Gehör, das nicht mehr so übermenschlich scharf war wie gestern, aber immer noch empfindlicher als jemals zuvor, hätte selbst die Atemzüge eines Eindringlings in ihre Träume gehört. Sie vernahm jedoch nichts.
Dennoch spürte sie, dass sie nicht allein war. Das war seltsam, verwirrend, wie ein Stück aus einem Traum, der überhaupt keinen Sinn ergab und zugleich doch, und vielleicht war das sogar schon die Erklärung. Sie war bewusstlos gewesen, dem Tod näher als dem Leben, und nun wachte sie auf. Aber sie war eben noch nicht richtig wach, sondern arbeitete sich durch einen Sumpf aus realen und eingebildeten Erinnerungen und purem Blödsinn nach oben.
Vampire. Was für ein Quatsch!
Behutsam hob sie die Augenlider und blickte auf einen blonden
Engelskopf, der auch Teil ihrer eingebildeten Erinnerungen war. Sie kannte sogar den dazugehörigen Namen. Louise.
Da waren noch mehr Namen, die ihr im Moment aber kaum etwas sagten: Charlotte. Nora. Stepan.
Sie konnte Louises Gesicht nicht sehen, denn die hatte sich tief über sie gebeugt, und ihre Lippen waren ihrer Haut so nahe, dass sie den warmen Atem spüren konnte, der über ihre Halsbeuge strich. Sie fühlte, wie eine weiche Hand ihre Brüste liebkoste und weiterwanderte, ihren flachen Bauch hinab dorthin, wo das Sonnentattoo gewesen war, und tiefer …
»Ich weiß, dass du wach bist«, sagte Louise. »Niemand kann sich vor uns verstellen, Liebes.«
»Wenn du so viel über mich weißt, dann solltest du auch wissen, dass ich das nicht mag«, antwortete Lena. Warum sprach sie eigentlich mit einem Traum? Ihrer Stimme fehlte auch eindeutig der nötige Nachdruck, und Louises Antwort bestand dann auch nur aus einem leisen Lachen.
Aber immerhin hob sie jetzt den Kopf und sah sie an. Ihre Finger schwebten sacht zitternd über ihrem Bauch, und der Blick ihrer wunderschönen, betörenden Augen zertrümmerte ihren Willen wie ein Hammerschlag.
»Was magst du nicht, Liebes?«, fragte Louise.
Sie richtete sich auf, blieb aber auf der Bettkante sitzen und legte die flache Hand auf Lenas Bauch. Wärme ergoss sich in ihren Leib und löste einen Tsunami fremder Gefühle und verbotener Lust aus, die sie nie gekannt hatte und auch nicht kennen wollte.
»Aber ist das auch wirklich die Wahrheit, Liebes?«, fuhr Louise fort, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Du urteilst über etwas, was du gar nicht kennst.« Ihre Stimme war so unwiderstehlich wie ihre grundlosen Augen; das Wort einer Göttin, das
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