Wir sind die Nacht
seinem Pech trug sie ein rotes Partykleid aus glänzendem Satin, das an der Seite bis fast zum Hüftknochen hinauf geschlitzt war, und dazu passende High Heels, deren acht Zentimeter langer Absatz sich wie ein Stilett in seine Brust bohrte.
Der Russe erstarrte. Seine Augen wurden groß und zeigten weder Schrecken noch Schmerz, sondern einfach nur einen Ausdruck grenzenlosen Erstaunens, während Charlotte den Absatz wieder aus seiner Brust zog und mit einem fast ballerinahaften Tänzeln zwei Schritte zur Seite trat. Die Pumpgun entglitt seinen plötzlich kraftlosen Fingern und fiel scheinbar lautlos zu Boden, und erst in diesem Moment registrierte Lena überhaupt, dass auch neben ihr ein wildes Handgemenge ausgebrochen war.
Falls das überhaupt noch ging, war es beinahe noch schneller zu Ende als der Kampf zwischen Charlotte und dem wild gewordenen Schützen. Lena war sich sicher, dass Louise weder an ihr noch an Charlotte und dem Russen vorbeigekommen war, und trotzdem stand sie plötzlich neben dem zweiten Kerl, wirbelte ihn mit nur einer Hand herum, als wäre er nicht mindestens dreimal so schwer wie sie, griff mit der anderen nach seinem Nacken und brach ihm mit einer beiläufigen Bewegung das Genick. Der Bursche fiel genauso lautlos zu Boden wie die Waffe seines Genossen.
Louise drehte sich zu ihr herum und streckte ihr die Hand entgegen. Ihre Lippen bewegten sich, aber alles, was Lena hörte, war ein schrilles an- und abschwellendes Klingeln, das die ganze Welt auszufüllen schien.
Louises Lippen bewegten sich erneut und genauso lautlos, dann schien sie zu begreifen, zog Lena kurzerhand am Arm in die Höhe und berührte dann flüchtig ihre Stirn. Das quälende Klingeln und Kreischen erlosch, und Lena empfand so etwas wie einen Strom unsichtbarer Kraft, der von Louise auf sie übersprang, genau wie zuvor bei Nora.
»Danke«, murmelte sie benommen.
»Bedank dich bei Nora, Kleines«, sagte Charlotte hinter ihr. »Sie hatte ein ungutes Gefühl - wie sie es ausgedrückt hat - und hat Louise und mir so lange damit in den Ohren gelegen, bis wir nachgesehen haben.«
»Wo ist sie überhaupt?«, fragte Louise.
Charlotte hob nur die Schultern, betrachtete stirnrunzelnd ihren rechten Schuh und wischte den blutigen Stöckelabsatz dann angewidert an den Kleidern des Toten ab, als wäre sie in einen Hundehaufen getreten. Irgendwo hinter ihr rief jemand: »Ich bin hier!«
Nora erschien lachend - sie war nicht mehr in schwarzes Leder gekleidet, sondern einen verführerischen Hauch aus
weißer Seide, der weit mehr von ihrer mädchenhaften Figur enthüllte, als er verbarg - hinter Charlotte und schleifte einen weiteren Russen hinter sich her. Er musste ungefähr dreimal so viel wie sie wiegen und bestand etwa zu gleichen Teilen aus Fett, Muskeln und Gestalt gewordener Wut, was Nora aber nicht daran hinderte, ihn so derb vor sich auf die Knie zu stoßen, dass sein wütendes Gebrüll zu einem schmerzerfüllten Keuchen wurde.
»Sieh doch, was ich gefunden habe, Louise!«, sagte Nora fröhlich. »Brauchst du es noch, oder kann ich es behalten?«
»Pass auf den Burschen auf«, sagte Louise. Sie sah in den Nebenraum und sagte schließlich: »Du lernst schnell, Lena. Alle Achtung. Aber es hätte völlig gereicht, ihm das Genick zu brechen. Du hättest ihn nicht gleich schlachten müssen.«
»Ich wollte nur …«
»Schon gut«, unterbrach sie Louise. »Das war ein Scherz, entschuldige. Wahrscheinlich ist dir im Moment nicht nach Scherzen zumute, habe ich recht?«
Lena sagte vorsichtshalber gar nichts, und Louise schien das auch nicht erwartet zu haben, denn sie wandte sich an den Russen, dem Charlotte mittlerweile einen cremefarbenen Schuh in den Nacken gesetzt hatte, um ihn niederzuhalten, und das strahlende Lächeln erlosch.
»Heute scheint dein Glückstag zu sein, mein Freund«, sagte sie. »Normalerweise kann ich Nora keinen Wunsch abschlagen. Aber heute mache ich mal eine Ausnahme, sogar auf die Gefahr hin, dass sie mir eine Woche lang böse ist.«
»He!«, protestierte Nora. »Ich habe es gefunden, also gehört es mir auch!«
»Siehst du?«, sagte Louise. »Ich werde eine Menge Ärger kriegen, und das nur deinetwegen.«
»Leck mich, du blöde Schlampe!«, sagte der Russe trotzig.
Louise seufzte, machte ein bedauerndes Gesicht und gab
Nora einen kaum sichtbaren Wink. Nora bückte sich blitzschnell und brach ihm den linken Ellbogen. Der Russe kreischte vor Schmerz, fiel auf die Seite und presste wimmernd den Arm an
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