Wir sind die Nacht
weder Zweifel aufkommen ließ noch gar Widerstand. Wenn Louise sie wollte, dann war das gut so, und sie wollte es auch, und -
Lena setzte sich mit einem Ruck auf und zog das dünne Bettlaken bis zum Kinn hoch.
»Nein«, sagte Louise. »So will ich es nicht.«
»Was willst du nicht?«, fragte Lena.
»Oh, ich denke, du weißt genau, was ich meine«, antwortete Louise.
Sie stand auf, und Lena sah erst jetzt, dass sie wenig mehr trug als sie selbst: einen dünnen Morgenmantel aus fleischfarbener Seide und dazu passende Unterwäsche. Widerwillig musste sie gestehen, dass ihr der Anblick gefiel. Sehr sogar.
»Siehst du, und aus genau diesem Grund will ich dich nicht zu etwas zwingen, Liebes«, sagte Louise.
»Liest du etwa … meine Gedanken?«, fragte Lena.
»Vielleicht könnte ich das sogar«, antwortete Louise, »aber das ist gar nicht nötig.« Sie berührte mit dem Zeigefinger ihre schmale Nase. »Ich kann es riechen.«
»Was?«
»Dass ich dir nicht gleichgültig bin.«
Das war natürlich Unsinn (und so ganz nebenbei die Wahrheit), und Lena spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht schoss. Sie stand nicht auf Frauen. Ganz im Gegenteil, sie war immer stolz darauf gewesen, diese männerverachtenden Lesben ihrerseits zutiefst zu verachten; frustrierte dämliche Weiber, die am Leben gescheitert waren und das andere Geschlecht dafür verantwortlich machten.
»Nein«, sagte Louise. »Die meine ich nicht.« Jetzt war Lena sich sicher, dass sie ihre Gedanken las.
Louise machte keinerlei Anstalten, das zu kommentieren. Sie stand auf und schlang den Morgenmantel um ihre perfekte Figur, wobei sie sich viel Zeit nahm, den Gürtel zu verknoten. Lena registrierte, dass sie es auf die Art tat, auf die man einen Karate-Gürtel schloss, mit zeremoniell anmutenden Bewegungen, als hätte sie diese mindestens hundert Jahre lang geübt.
»So will ich es nicht«, sagte Louise. »Wir haben Zeit, Liebes. Alle Zeit der Welt … oder doch fast.«
Louise setzte sich an einen kleinen runden Tisch, der aussah, als wäre er wie die restliche Einrichtung ein Original aus dem 17. oder 18. Jahrhundert. Sie sah sie eine kleine Ewigkeit lang durchdringend an und blätterte dann in etwas, was Lena erst beim zweiten Hinsehen als ihre Brieftasche erkannte.
»Was tust du da?«, fragte sie.
Statt zu antworten, kramte Louise ihren Personalausweis aus der Brieftasche und tat so, als müsste sie angestrengt den winzigen Text entziffern. »Lena Bach«, las sie vor. »Ein hübscher Name, Bach. Nichts Außergewöhnliches, aber auch nicht zu durchschnittlich. Eigentlich perfekt. Schade.«
Und damit nahm sie den Ausweis und riss ihn in briefmarkengroße Fetzen.
»He!«, protestierte Lena und griff hastig nach der dünnen Decke, die ihr von den Schultern rutschen wollte. Louise lächelte amüsiert, und Lena spürte, wie sie wieder rote Ohren bekam. Sie kam sich ziemlich albern vor. Was bitte schön gab es an ihr, das Louise noch nicht gesehen hatte?
»Was soll das?«, sagte sie zornig. »Wieso machst du meinen Ausweis kaputt?«
»Reg dich nicht auf, Lena, ich besorge dir einen neuen. Ich habe nur dein altes Leben weggeworfen. Du brauchst einen neuen Namen, und dein Geburtsdatum sollten wir auch ändern. Willst du ein Jahr jünger sein oder ein paar Monate? Was hältst du von Elena statt Lena? Dann könntest du dich weiter Lena nennen, aber in deinen Papieren steht etwas anderes.«
»Einen neuen … Ausweis?« Lena verstand kein Wort mehr.
»Und eine neue Geburtsurkunde, eine neue Sozialversicherungsnummer, einen anderen Schulabschluss samt den nötigen Zeugnissen, die Mitgliedschaft in der Krankenkasse … Und
ich nehme an, du hast nichts dagegen, wenn ich bei der Gelegenheit gleich deine Strafakte lösche, oder?«
Lena starrte sie an.
»Schau nicht so«, sagte Louise belustigt. »Das ist alles kein Problem für mich. Es hat gewisse Vorteile, wenn man nicht arm ist und Verbindungen zur Unterwelt hat, glaub mir.«
Lena glaubte ihr, aber das war nicht der Grund, weshalb sie sie so fassungslos anstarrte. »Du willst, dass ich meine Identität ändere?«, sagte sie mit einer Stimme, die so beherrscht war, dass es sie selbst erschreckte.
»Eine neue Identität!« Louise seufzte. »Das klingt so sachlich«, sagte sie. »Wie etwas aus einem Bericht der Staatsanwaltschaft, finde ich. Sagen wir: Du wirst ein anderer Mensch werden. Du kannst dir sogar aussuchen, welcher.« Sie lachte. »Viele von denen da draußen würden alles für eine
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