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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Geräusch verschlang.
    Grelle Blitze huschten in immer schnellerer Folge über ihre Netzhäute, aber es war kein Licht, in dem sie etwas sehen konnte. Da waren Geräusche - vielleicht Stimmen -, die sie nicht genau identifizieren konnte, an denen aber auch etwas ungemein Alarmierendes war. Höchstwahrscheinlich waren die Schreie des Russen gehört worden. Jemand würde kommen und nach ihm sehen. Jemand, der Lena töten würde.
    Irgendwie gelang es ihr, sich auf alle viere zu stemmen und in die Richtung loszukriechen, in der sie die Tür vermutete. Die zerbrochene Lampenfassung über ihr explodierte in einem letzten, zischenden Funkenschauer. Sie kroch im Dunkeln weiter, griff in etwas Warmes und Klebriges und spürte dann das rissige Holz der Tür, die unter dem Anprall des Russen tatsächlich geborsten war. Ein dünner Streifen aus gelbem Licht fiel durch den Riss herein, der das Holz nahezu zur Gänze spaltete, und jetzt hörte sie Schritte und aufgeregte Stimmen, die rasend schnell näher kamen.
    Als sie die Hand nach der Klinke ausstreckte, um sich daran in die Höhe zu ziehen, griff sie ins Leere. Sie wurde von einer Hand gepackt und so derb nach draußen gezerrt, dass sie schmerzhaft auf die Knie fiel. Das grelle Licht blendete sie im allerersten Moment so sehr, dass sie nur Schatten sah. Eine Stimme schrie etwas auf Russisch und weitere rennende Schritte näherten sich.

    Lena stemmte sich unsicher hoch und blinzelte die Tränen weg, die ihr den Blick verschleierten, aber vielleicht hätte sie das lieber nicht tun sollen. Was sie sah, war nicht sehr erfreulich.
    Die beiden eingetroffenen Russen berieten sich über ihr, bis der eine davon in gebrochenem Deutsch rief: »He, was soll das - bleib hier!«
    Die Worte galten Lena, die in einem Akt purer Verzweiflung aufgesprungen war. Sie kam allerdings nicht einen einzigen Schritt weit. So schnell und übermenschlich stark sie noch vor Augenblicken gewesen war, so schwach und langsam kam sie sich nun vor; als würde ihr Körper den Vorschuss zurückverlangen, den er ihr gerade so großzügig gewährt hatte.
    Der Russe riss sie zurück, stieß sie gegen die Mauer und presste ihre Schultern dagegen. Der zweite Russe hielt etwas in der Hand, was Lena zwar nur aus dem Fernsehen kannte, dafür aber aus entschieden zu vielen Krimis, um nicht zu wissen, dass es eine ausgewachsene Pumpgun war. Er war nahezu genauso groß wie ihr Iwan, sah aber nicht annähernd so freundlich aus. Dafür ließ sein Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran, dass er seine gemeine Waffe, ohne zu zögern, benutzen würde.
    »Rühr dich nicht!«, sagte der andere Russe, ließ sie los und sah in die Kammer.
    Iwan lag reglos auf dem Rücken. Unter seinem Kopf und den Schultern hatte sich eine dunkle Lache gebildet, und sein Gesicht war eine einzige Maske aus Blut und erstarrtem Schmerz. Wo sein linkes Auge gewesen war, ragte ein Gewirr aus scharfkantigen Glasscherben und Draht aus der leeren Höhle, als hätte ihn jemand mit sehr wenig Geschick in einen Cyborg aus einer Science-Fiction-Geschichte verwandeln wollen.
    Eine geschlagene Sekunde lang starrte der Russe das grauenhafte Bild einfach nur an, dann prallte er mit einem in seiner Muttersprache gekrächzten Fluch zurück, und auch die Augen des anderen weiteten sich in schierem Entsetzen. Aber zugleich
ergriff er auch die Pumpgun mit beiden Händen und riss sie hoch. Sein Kamerad glitt hastig aus der Schusslinie, und der Russe legte den Sicherungshebel der überschweren Flinte im gleichen Moment um, in dem er ihre Mündung auf Lenas Gesicht schwenkte. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Er hatte nicht vor, Fragen zu stellen, begriff sie entsetzt, sondern einfach nur, ihr Gehirn über die Backsteinmauer hinter ihr zu verspritzen.
    Nur den Bruchteil einer Sekunde bevor er es tun konnte, erschien eine schlanke Frauengestalt mit schulterlangem braunem Haar buchstäblich aus dem Nichts neben ihm, schlug die Waffe mit dem Handrücken nach oben, so dass sie ihre Ladung mit einem ungeheuerlichen Dröhnen in die Decke entlud, statt in Lenas Gesicht, und führte die Bewegung übergangslos zu Ende, indem sie den Oberkörper zur Seite beugte, das Bein hochriss und ihm den Absatz mit einem perfekten Karate-Tritt gegen die Brust schmetterte.
    Hätte Charlotte einen Karate-Anzug getragen und nackte Füße gehabt, hätte ihm der Tritt den Atem genommen, ihn quer durch den Raum geschleudert und ihm vielleicht die eine oder andere Rippe gebrochen, doch zu

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