Wir sind die Nacht
erzählt, dass man in dieser Stadt alles bekommt, wenn man nur lange genug danach sucht?«
»Und genug dafür bezahlt«, pflichtete ihr Charlotte bei. »Und? Hat es geschmeckt?«
»Ehrlich?«, fragte Lena.
»Wir sind immer ehrlich zueinander, Liebes«, sagte Louise.
Lena sah ein paarmal von ihr zu Charlotte und wieder zurück, bevor sie antwortete. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann hat sie geschmeckt, als … als hätte jemand hineingepinkelt.«
Charlotte machte ein übertrieben schockiertes Gesicht, und Louise lachte leise. »Ja, ich erinnere mich flüchtig«, sagte sie. »Ich habe das Zeug schon nicht gemocht, als es noch legal war. Aber es ist nicht alles so schlimm, glaub mir.« Sie machte eine auffordernde Kopfbewegung. »Probier wenigstens. Wenn es dir wirklich nicht schmeckt, dann besorge ich dir höchstpersönlich deinen Hamburger.«
Das war albern, und sie würde es auch bestimmt nicht tun, das war Lena klar, aber sie tat Louise trotzdem den Gefallen. Sie nahm einen Löffel und probierte vorsichtig an einer Schüssel mit Kaviar; was ihr neben den schlabberigen Austern und all dem gepanzerten Meeresgetier mit viel zu vielen Beinen noch
am harmlosesten erschien. Sie war davon überzeugt, dass es nicht schmecken würde.
»Und?«, sagte Louise.
Lena schluckte, legte den Löffel mit einer umständlichen Bewegung aus der Hand und griff nach einem größeren, um weiterzuessen.
»Na also!«, sagte Charlotte zufrieden. Nora klatschte spöttischen Beifall, und Louise sagte zwar nichts, sah aber ausgesprochen zufrieden aus. Lena kam sich ziemlich albern vor. Und nicht zum ersten Mal wie manipuliert.
Nora kicherte schon wieder, stürzte den Rest ihres Champagners mit einem einzigen Zug hinunter und knackte dann einen Hummer, ohne dazu eines der komplizierten Werkzeuge zu Hilfe zu nehmen, die die diensteifrigen Kellner bereitgelegt hatten. »Macht zwar nicht satt, schmeckt aber trotzdem geil!«, sagte sie. »Und außerdem … He, wenn das keine Überraschung ist! Die Welt ist doch wirklich klein!«
Lena drehte sich halb auf ihrem Stuhl herum, um Noras Blick zu folgen, und hätte sich beinahe an ihrem letzten Löffel Kaviar verschluckt, als sie das ältere Paar erkannte, das gerade hereingekommen war und nach einem Kellner Ausschau hielt, der ihnen einen Platz zuwies. Es war das Paar aus dem Aufzug.
Die Frau sah sie einen halben Atemzug lang fragend an und verlor dann sofort wieder das Interesse an ihr, als hätte ihr Anblick etwas in ihr berührt, was ihr wieder entglitten war, noch bevor es zu einer Erinnerung werden konnte.
Ihr Begleiter reagierte völlig anders. Er erstarrte einfach, glotzte sie an und ließ die Kinnlade herunterklappen. Er hatte sie erkannt, und er erinnerte sich sehr genau.
»Hi!« Nora prostete dem Paar mit ihrem Champagnerglas zu und winkte gleichzeitig mit der anderen Hand. Die Frau sah peinlich berührt weg, und auch ihr Begleiter hatte es mit einem Mal sehr eilig, sich dem Kellner zuzuwenden.
»Wo … kommen die denn her?«, murmelte Lena.
»Zufall«, sagte Louise. »Mach dir nichts draus.«
»Ich dachte, du glaubst nicht an Zufälle?« Lena ließ die beiden nicht aus den Augen, während der Kellner sie zu einem freien Tisch führte.
»Tu ich auch nicht«, antwortete Louise. »Das hier ist eines der angesagtesten Restaurants der Stadt. Wer was auf sich hält, der kommt hierher. Starr sie nicht an. Oder willst du, dass sie sich an dich erinnern?«
Lena zwang ihren Blick, die beiden loszulassen, aber es half nicht viel. Ihre plötzlich um so vieles schärfer gewordenen Sinne verrieten ihr, dass die beiden an einem Tisch ganz in der Nähe Platz nahmen. Und auch, dass sie sie weiter anstarrten.
»Funktioniert der Ich will nicht, dass du mich siehst- Trick hier nicht?«, fragte sie ohne große Hoffnung.
Louise schüttelte den Kopf. »Unsichtbar machen können wir uns nicht. Aber keine Angst. Sie werden nichts sagen.«
»Und wenn sie doch zu neugierig werden, dann lauern wir ihnen auf dem Rückweg auf und saugen sie aus.«
Lena starrte Nora an. Es war ein Scherz. Natürlich war es nur ein Scherz, was sonst? Allmählich sollte sie Noras gewöhnungsbedürftigen Sinn für Humor doch kennen. Dennoch lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. »Aber ihr … tut das doch nicht wirklich, oder?«
»Ununterbrochen«, antwortete Charlotte. »Irgendwas müssen wir ja schließlich essen.«
»Und die Zeitungen sind ja seit Jahren voll mit Schauergeschichten über
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