Wir sind doch Schwestern
übel wurde und sie drohte, in Ohnmacht zu fallen? Viele ihrer Freundinnen dachten wie sie. So ein Korsett war etwas für alte Weiber, die viele Kinder bekommen hatten. Eigentlich nicht einmal das, es war ein überflüssiges Ding, das Frauen zu körperlicher Schwäche verdammte.
»Komm, wir fahren los«, hörte Gertrud ihren Vater rufen. Sie musste tief einatmen. Ihr war flau im Magen. Es war vor allem der Kontrast zu Franz’ Familie, der ihr schmerzlich bewusst wurde. Die Hegmanns hatten sogar ein Automobil. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als jetzt darin zu fahren. Sie und Franz, irgendwohin, wo sie zu zweit wären und keine Familie Hegmann auf sie wartete, um sie zu beäugen. Vielleicht aber auch irgendwohin, wo sie sich frei fühlen könnte von der Verantwortung, die sie ständig spürte. Verantwortung für die Kleinen in der Familie, ebenso wie für ihre Mutter, die gesundheitlich nicht mehr robust war. Verantwortlich für ihre Schüler und eigentlich für die ganze Welt. Im Grunde ihres Herzens war Gertrud kein fröhlicher Mensch. Nur wenn sie mit Franz zusammen war, war alles leicht. Er war so unbekümmert und neugierig auf das Leben. Wenn er mit überschäumender Begeisterung von etwas schwärmte, war sie hingerissen, obwohl sie meist nur die Hälfte verstand. Franz konnte sich für jede Form von Technik begeistern und sie damit anstecken. Einmal hatte er ihr bei seinem Automobil jede einzelne Schraube erklärt. Er hatte sie an die Hand genommen, sie beinahe mit sich gerissen, sich neben dem rechten Rad gebückt, um ihr mitleuchtenden Augen die Bremsen zu zeigen. Dann waren sie um das halbe Auto gerannt, um auch noch die Bremstrommel am linken Rad zu bestaunen.
Inzwischen konnte Gertrud längst Auto fahren. Zumindest in der Theorie. Franz hatte ihr Unterricht gegeben. In der Küche hatten sie zwei Stühle nebeneinander aufgestellt, er hatte ihr einen Kochtopfdeckel in die Hände gelegt, ein paar leere Blechdosen auf dem Boden aufgereiht und sie hatte fahren, bremsen, schalten und lenken simuliert. Dabei hatte er immer wieder ihre Hand angefasst und sie sanft am imaginären Lenkrad festgehalten. Als sie die Stirn daraufhin in vorwurfsvolle Falten gelegt hatte, hatte er spitzbübisch behauptet, sie sei beinahe in den Graben gefahren. Und Gertrud hatte gelacht wie schon lange nicht mehr. Sie hatte so sehr gelacht, dass ihr die Tränen in die Augen traten und der Bauch wehtat.
Gertruds Vater hatte nie etwas gesagt. Er hätte natürlich einschreiten können, dachte Gertrud, denn Franz war ganz schön forsch gewesen. Doch vielleicht freute er sich einfach für seine Tochter oder er träumte von einem reichen Schwiegersohn. Und während sie darüber noch nachdachte, hörte sie ihren Vater mit der Zunge schnalzen und Neptun setzte sich gemütlich in Gang.
Eine ganze Weile rang Gertrud in Gedanken mit sich.
»Vater, darf ich dich um etwas bitten?«, fragte sie schließlich.
»Natürlich, mein Kind.«
»Könnten wir heute Nachmittag bitte nicht über Politik reden?«
Ihr Vater schaute sie amüsiert an.
»Habe ich die falschen Ansichten?« Sein Ton war mild und Gertrud atmete auf.
»Ich fürchte schon«, seufzte sie. »Franz hat mir von seinem älteren Bruder Heinrich erzählt. Er ist gestern dreißig Jahre alt geworden, vergesst bitte nicht, ihm bei Gelegenheit zu gratulieren. Jedenfalls ist er in der Zentrumspartei aktiv und sehr konservativ. Nicht dass es da zu einer Verstimmung kommt.«
Gertrud beobachtete, wie Ludwig Franken seine Frau anschaute. Die nickte nur stumm. Christine Franken war harmoniebedürftig und empfand die Diskussionen in ihrem Haus als anstrengend. Und Gertrud hatte den Eindruck, dass ihre Mutter sich nicht stark genug fühlte, in so einem Rahmen eine eigene Meinung zu vertreten. Für sie war es sicher eine ganz angenehme Vorstellung, dass ihr Mann endlich einmal nur über das Wetter plaudern würde. Aber ob man mit Heinrich Hegmann einfach so Konversation machen konnte?
Franz hatte in Gertruds Augen ein merkwürdiges Verhältnis zu seinem Bruder. Einerseits liebte und bewunderte er den Älteren und versuchte, ihm in allem nachzueifern, andererseits schien er rasend eifersüchtig. Heinrich war der Stolz der Familie, er war perfekt in allem, was er tat. Er war nur fünf Jahre älter und doch hatte er Franz »ein Zeitalter voraus«, so hatte Franz es formuliert. Heinrich war dem Vernehmen nach ein guter Bauer, er war ein sehr regelmäßiger Kirchgänger, er war in der Gemeinde
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