Wir sind doch Schwestern
aktiv und allseits so geachtet, dass er Politiker geworden war. Als Erstgeborener war er der Erbe des Bauernhofes und er besaß Franz’ Erzählungen nach eine natürliche Autorität, der sich sogar sein Vater bereitwillig untergeordnet hatte. Schon seit Jahren bestimmte er die Geschicke des Tellemannshofes. Sein Vater hatte ihm alles übertragen, da war Heinrich gerade mal sechzehn gewesen. »Er ist der Hausherr«, hatte Franz gesagt und Gertrud erzählt, wie es dazu gekommen war, dass Heinrich das Regiment über den Tellemannshof übernommen hatte. Er hatte seinen Vater entmachtet, ihn im Grunde in der Öffentlichkeit bloßgestellt. Franz hatte seinen Bruder deswegen verteidigt. »Unser Vater ist ein schwacher Mensch. Er ist darauf bedacht, nicht aufzufallen, weil er Angst hat vor schlechter Nachrede.« Dashatte dazu geführt, dass Johannes Hegmann mehr und mehr ausgenutzt und betrogen worden war und er Gefahr lief, den Hof herunterzuwirtschaften, bis Heinrich ihm die Zügel aus der Hand riss. Der Moment war gekommen, als Heinrich und sein Vater gemeinsam die Milch zur Genossenschaft brachten. Sein Vater hatte von Mal zu Mal weniger Geld bekommen, denn er hatte nicht den Mut gehabt, zu verhandeln. Schließlich wollte man ihm für den Liter Milch nur noch fünf Pfennige geben. Sein Vater war bereit, auch diesen Preis schweigend zu ertragen. Heinrich wartete, zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, dann konnte er nicht mehr. Er übernahm das Gespräch und verhandelte alle in Grund und Boden. Seitdem hatte Heinrich für jeden sichtbar die Herrschaft übernommen. Der Vater blieb zwar weiterhin am Kopfende des Tisches sitzen, aber gegessen wurde erst, wenn Heinrich saß, und er bediente sich als Erster.
»Magst du deinen Bruder?«, hatte Gertrud Franz nach dieser Geschichte mit gemischten Gefühlen gefragt.
»Ich weiß nicht. Ja, natürlich, er ist ja mein Bruder.«
»Wird er mich mögen?«
Franz hatte lange gezögert, bis er eine Antwort gab. Und Gertrud schätzte es sehr, dass er ihr nie einfach sagte, was sie hören wollte.
»Ich bin nicht sicher. Heinrich ist schlau. Und ich vermute, er wird in dir das erkennen, was auch ich sehe. Du bist klug und geistreich, bist ihm ebenbürtig. Du wirkst stolz, strahlst eine natürliche Würde aus und bist nicht so kokett wie andere Mädchen. Brauchst du noch mehr Komplimente?« Er hatte gelacht und sie von der eigentlichen Frage abgelenkt. Was würde passieren, wenn Heinrich Franz’ Wahl nicht gutheißen würde?
»Da vorne muss es sein«, sagte Gertruds Vater schließlich. Sie waren bereits seit zweieinhalb Stunden unterwegs und inzwischen war Kaffeestunde. »Die Herrschaften sind im Garten«, sagte das Hausmädchen, das ihnen öffnete, es war in etwa so alt wie Gertrud, »folgen Sie mir bitte.«
Alle Frankens hielten beinahe ehrfurchtsvoll den Atem an. Das Haus war imposant, die Diele allein schien so groß wie der ganze Hof in Empel. Zu beiden Seiten gingen weitere Zimmer ab. Das Dienstmädchen führte sie durch eine Art Schreibstube mit einem großen Mahagonischreibtisch und von dort durch eine weitere Tür mit kleiner Treppe in den Garten. Er war wunderschön bepflanzt, unzählige Blumenbeete waren zu sehen, in denen Silberblatt und Traubenhyazinthen standen, an anderer Stelle blühten Leberblümchen und Osterglocken, dazwischen Krokusse und wilde Tulpen. Der Rasen war exakt geschnitten und die Herrschaften, zumindest Vater und Mutter Hegmann, saßen bereits an einer üppigen niederrheinischen Kaffeetafel. Es gab Wurst und Brot, dazu Kuchen und Rosinenstuten mit Rübenkraut. Der Tisch war festlich hergerichtet und Gertrud hoffte, dass dies ein gutes Zeichen war. Oder war das etwa der normale Osterschmuck?
Franz kam ihnen entgegen, um sie in Empfang zu nehmen. Gertruds Herz hüpfte vor Freude und Nervosität. Er begrüßte sie und führte sie zu seinem Vater an den Tisch.
Johannes Hegmann stand nun ebenfalls auf. »Willkommen auf dem Tellemannshof! Meine Frau Wilhelmine und ich freuen uns, Sie kennenzulernen. Franz hat schon viel von Ihnen erzählt. Nehmen Sie doch bitte Platz, wir erwarten noch meinen Sohn Heinrich.« Das war alles. Eine Begrüßungsfloskel, ein herzliches Nicken von Mutter Wilhelmine und dann wurde geschwiegen. Franz und die Frankens setzten sich, weiter geschah nichts.
»Der Frühling ist wunderschön in diesem Jahr«, versuchte Gertruds Mutter eine kurze Bemerkung über das Wetter, die ins Leere lief. Gertrud war unruhig und wusste nicht, wasdas alles
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