Wir sind doch Schwestern
ging er los.
Gertrud blickte ihm nach. Sie war wütend und hatte zugleich Mitleid. Wahrscheinlich fühlte er sich in diesem Moment wie ein Versager. Wieder einmal war er unter Heinrichs Blick zusammengebrochen. »Er steht oben am Fenster«, äffte Gertrud ihn in Gedanken nach. Sie schämte sich dafür, dass Franz sich so lächerlich benahm. Sie fand den Respekt, den er seinem Bruder gegenüber an den Tag legte, übertrieben, schließlich war er doch auch jemand. Jemand, den sie liebte, der so viel wusste und so geistreich war. All das hatte er allerdings an diesem Tag noch nicht gezeigt. Gertrud schaute zu Katty. Das Mädchen war von der Kaffeetafel aufgestanden und pflückte Blumen im Garten.
Ich kann hier nicht so einfach herumsitzen, entschied sie.
Sie murmelte etwas von »Hitze« und »frisch machen« in die Runde, entschuldigte sich und lief hinter Franz her, um ihn zur Rede zu stellen. Kurz vor dem Haus sprach sie ein Dienstmädchen an: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, ich suche das Badezimmer.«
»Folgen Sie mir bitte.«
Gertrud seufzte, aber sie konnte das Mädchen ja schlecht fragen, wo sie Franz finden könnte. Sie ging ins Bad und wusch sich die Hände, dann tupfte sie ihr Gesicht mit den kühlen Handinnenflächen ab. Sie hatte sich den heutigen Tag anders vorgestellt. In ihrer Fantasie hatte sie natürlich gesehen, wie Franz einen Ring hervorholte. Nichts besonders Wertvolles, nur ein kleines Zeichen seiner Liebe. Gertrud hatte sich vorgestellt, dass Franz den Ring selbst gekauft hatte, statt einen aus der Familienschatulle auszuwählen, der von seinem Bruder genehmigt worden war. Alles Weitere hatte sie nur noch in Pastell gesehen: Wie sie Franz um den Hals fiel und die Familien sich gegenseitig gratulierten.
Das hatte mit der Realität da draußen im Garten rein gar nichts zu tun, erkannte sie, und »Er steht oben am Fenster« hieß auch nicht im Mindesten »Willst du meine Frau werden?«.
Gertrud hörte knarzende Holzdielen über sich. Ob das Franz war? Sie wollte gerade das Badezimmer verlassen, als sie jemanden rufen hörte. Erschrocken blieb sie am Waschbecken stehen.
»Franz, bist du da oben?« Es war Heinrichs Stimme.
»Würdest du bitte herunterkommen und dich um deine Gäste kümmern!«
Franz antwortete nicht. Stattdessen hörte Gertrud, wie oben eine Tür zuschlug und jemand die Treppe herunterkam.
»Ich werde jetzt um ihre Hand anhalten.« Gertrud jubelte innerlich, als sie diesen Satz und Franz’ entschlossenen Tonfall hörte. Endlich, dachte sie, da war er wieder, ihr Franz, der sich auch nicht scheute, seinem Bruder die Stirn zu bieten, der mit ihr leben wollte. Sie war stolz und glücklich. Und dann überkam sie Panik. Oh mein Gott, schoss es ihr durch den Kopf, er darf nicht erfahren, dass ich es schon weiß. Wie komme ich jetzt hier raus?
»Du solltest eine kluge Wahl treffen, keine leidenschaftliche«, hörte sie Heinrich scharf erwidern. Dieser Mann ist kalt wie eine Hundeschnauze, dachte Gertrud.
»Heinrich, das verstehst du nicht. Es ist Liebe. Sie ist etwas Besonderes. Man kann doch nicht einfach irgendein Mädchen heiraten, nur weil es eine gute Partie ist.«
»Warum nicht? Denk an deine Zukunft.«
»Was ist nur aus dir geworden, großer Bruder. Weißt du nicht mehr, wie wir früher von schönen, stolzen Mädchen geträumt haben?«
»Hör auf damit. Du wirst ja hysterisch.«
»Willst du denn ewig ein stumpfer Eigenbrödler bleiben? Meinst du, du wirst glücklich, wenn du alle Menschen mit deiner Arroganz auf Abstand hältst? Du bist doch nur neidisch.«
»Halt den Mund, Franz. Du machst dich lächerlich. Ich rate dir …«
»Deinen Rat kannst du dir sparen, ich will ihn nicht.«
»Aber mein Geld, das wirst du wollen. Wovon willst du denn deine Gertrud ernähren? Und das Dutzend, das als ihre Familie noch dazukommt? Ich habe mich erkundigt über ihren Vater, Franz. Willst du hören, was dein zukünftiger Schwiegervater dir an Mitgift geben kann? Nichts, Franz. Gar nichts, außer ein paar Schwestern. Und wenn die nicht heiraten, dann werden sie eines Tages alle mit hungrigen Mäulern bei dir am Tisch sitzen. Das hält keine noch so große Liebe aus.«
»Doch«, Franz’ Stimme war wieder dünner geworden.
»Sei vernünftig, kleiner Bruder. Heirate eine von den Thiemannmädchen, dann bekommst du einen ordentlichen Hof dazu. Ich will nur dein Bestes. Aber nun lass Gertrud gehen und mach das Mädchen nicht unglücklich. Das hat sie nicht verdient. Und du auch
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