Wir sind doch Schwestern
ihr zwei«, antwortete Gertrud nachdenklich. Heinrich sonnte sich in dem unerwarteten Lob, aber Katty kannte ihre Schwester und war alarmiert. Das würde wieder einen Tadel geben, dachte sie und wappnete sich.
»Ihr habt es aufs Trefflichste verstanden, Anna Maria in aller Öffentlichkeit als eine Verrückte dastehen zu lassen.« Katty fiel die Kinnlade herunter. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Wie kommst du denn darauf? Der Name Anna Maria ist nicht ein einziges Mal gefallen. Es ging doch gar nicht um sie«, verteidigte sie sich etwas lahm. Sie wusste, wann sie bei Gertrud verloren hatte: Immer dann, wenn die große Schwester sie mit ihrem Scharfsinn entlarvte.
»Halt den Mund, Katty. Das ist durchtrieben, was ihr da macht. Könnt ihr die arme Frau nicht in Ruhe lassen? Es reicht, dass ihr sie unglücklich gemacht habt. Stellt sie nicht auch noch als Verrückte dar, nur weil sie nicht beweisen kann, was doch jeder ahnt.«
»Gertrud«, wandte Heinrich zaghaft ein, »es geht um die Politik. Das hat nichts mit ihr zu tun. Denk nicht schlechter von mir als nötig.«
Gertrud schnaubte verächtlich. »Ich wollte nur, dass ihr es wisst, ich habe gestern eine Vorladung bekommen. Ich soll als Zeugin vor Gericht aussagen. Am 13. Juni ist der Termin.«
Katty schien es, als genieße ihre Schwester die Drohung, die darin mitschwang. Sie erfasste sofort, was das bedeuten könnte: Wenn Gertrud aussagte, dass die Klägerin nie eine Chance gehabt hatte, als Ehefrau im Hause Hegmann anzukommen,würden die Richter ihr wahrscheinlich Glauben schenken und Heinrich Hegmann die Schuld an der Zerrüttung der Ehe zuschreiben. Gertrud war Schulrektorin, galt damit als klug und integer, und wenn sie sich gegen die eigene Schwester stellte, wäre Heinrichs und Kattys Schicksal besiegelt. Heinrich war offenbar zu demselben Schluss gekommen.
»Gertrud«, sagte er leise, »das kannst du nicht machen. Du würdest mein Leben ruinieren.«
Gertrud blickte ihn kalt an.
»Das hast du mit meinem auch getan«, flüsterte sie, stellte die leere Kaffeetasse auf den Unterteller und ging.
Der 100. Geburtstag – Sonntag
Ein gesegnetes Alter
Ich muss das Ding endlich in den Müll werfen, ärgerte sich Katty, deren Blick schon wieder auf der Scheidungsakte gelandet war. Schnell zog sie eine zweite Nylonstrumpfhose über die erste, um sich in der Kirche nicht zu erkälten, ihr graues Kostüm mit der bordeauxroten Bluse darüber und stellte sich vor die Spiegelkommode, um ihre Frisur zu prüfen. Die Friseurin hatte gestern ganze Arbeit geleistet, ihre Haare saßen so perfekt wie am Vortag. Katty vermutete tonnenweise Haarspray als Grund für dieses Wunder. Sie überlegte kurz, ob sie sich zu diesem feierlichen Anlass schminken sollte, doch ein Blick auf die Uhr ließ sie die Idee verwerfen. Außerdem war sie nicht sonderlich begabt darin, und als sie zu ihren Schwestern in die Küche kam, stellte sie wieder einmal fest, dass auch Gertrud dieses Talent nicht besaß. Ohne eine Erklärung nahm sie etwas Handcreme, die am Spülbecken stand, und rieb kräftig am Hals ihrer großen Schwester, um die Schminkstreifen zu entfernen.
»So, jetzt siehst du aus wie zwanzig«, urteilte sie, nachdem sie einen Schritt von Gertrud weggetreten war. Gertrud nickte und nahm einen letzten Schluck vom kräftigen Kaffee.
»Na dann los. Ich will doch nicht zu meinem eigenen Geburtstag zu spät kommen!«
Katty war das nur recht, denn es war Muttertag an diesem Sonntag und deshalb vermutete sie, dass die Kirche besonders voll sein könnte. Sie hatte den Pfarrer zwar gebeten, die vorderste Reihe zu reservieren, aber man konnte nicht sicher sein, ob er wirklich daran dachte. Katty hakte Gertrud mit kräftigem Griff unter und führte sie zur Haustür. Als sie merkte, dass Paula, blind wie sie war, etwas verloren hinterherzockelte, rief sie José zur Hilfe. José war Frühaufsteherin und an diesem Tag so nervös, als hätte sie selbst Geburtstag. Sie hatte sich deshalb bereits vor einer Viertelstunde mit Stock und Mantel an die Tür gestellt. Vielleicht hatte sie Sorge, dass man sie vergaß. José, die zwar beim Gehen gefährlich schlurfte, aber gute Augen hatte, schnappte sich Paula, und zu viert fuhren sie den kurzen Weg zur Kirche, wobei Katty selbstverständlich am Steuer saß.
»Gertrud, siehst du, wie schön die Nachbarn die Kirche geschmückt haben?«, rief sie freudig, als sie wenige Minuten später ankamen. Gertrud schritt so würdig, wie man mit hundert Jahren
Weitere Kostenlose Bücher