Wir sind doch Schwestern
noch schreiten konnte, zum Portal der Kirche. Nur wenn man sie kannte, sah man, wie viel Kraft es sie kostete, den Oberkörper kerzengerade zu halten. Ihre eingefallenen Wangen bebten vor Anstrengung. Vielleicht ist das ihr letztes großes Fest, dachte Katty wehmütig, vielleicht wird sie sich im nächsten Jahr nicht mehr würdigen lassen. Gertrud sah müde aus, vielleicht war es doch zu anstrengend für sie gewesen, am Abend bis in die Puppen zu feiern und am nächsten Morgen schon wieder. War es wie üblich sie selbst gewesen, die unbedingt eine Großveranstaltung haben musste?, fragte sich Katty. Oder entsprach es auch Gertruds Wünschen? Sie würde an diesem Tag auf ihre Schwester achtgeben müssen. Wie oft starben Menschen an solch einem Tag? Musste sie sich ernsthaft Sorgen um Gertrud machen? Hatte sie vielleicht nur eingewilligt, bei ihr zu wohnen, weil sie längst spürte, dass das Ende nah war? Katty schüttelte den Gedanken ab.
Sie geleitete ihre Schwester in die vorderste Bank. Der Pfarrer hatte Wort gehalten, es lag ein Zettel mit der Aufschrift »Familie Franken« darauf. Sie platzierte Paula neben Gertrud und übernahm dann die Begrüßung der Gäste. Das lange Stehen war Gertrud in ihrem Alter nicht mehr zuzumuten.
Katty stellte sich dem Pfarrer gegenüber ins Kirchenportal. Beide schüttelten die Hände aller Kirchgänger, der Pfarrer, weil es für ihn üblich war am sonntäglichen Hochamt, und Katty, weil das für sie mitnichten ein sonntägliches Hochamt war, vielmehr eine Geburtstagsmesse zu Ehren ihrer Schwester. Streng genommen war es ziemlich anmaßend, sich vor der Kirche als Gastgeberin aufzuführen, das wusste sie, aber der Pfarrer würde ein Auge zudrücken.
Um zehn Uhr waren alle Schäfchen, die in die Kirche passten, auf den Bänken platziert. Da es ein schöner warmer Tag war, ließ der Pfarrer die Türen geöffnet, damit alle weiteren Gäste draußen stehen konnten und vielleicht ein bisschen von der Predigt mitbekamen. Auch ein Mann Gottes war nicht frei von jeglicher Eitelkeit, schmunzelte Katty.
Sie ging durch den Mittelgang nach vorne zu ihren Schwestern und genoss dabei jeden Schritt, zwinkerte dem einen zu, winkte dem Nächsten, und wenn sie einen nahen Verwandten erblickte, streckte sie sich, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie sah, wie Gertrud und Paula die Köpfe zusammensteckten und herumalberten. Katty beobachtete sie gerührt. Sie waren die Letzten, die ihr geblieben waren. Alle anderen Geschwister waren inzwischen tot. Und auch Heinrich, den sie immer als Teil ihrer Familie betrachtet hatte, war schon vor langer Zeit gestorben. Fünfundachtzig Jahre war er geworden und bis wenige Wochen vor seinem Tod geistig und körperlich fit gewesen. Doch dann hatte sein Herz versagt. Er hatte Katty gebeten, alle Scheidungsunterlagen zu verbrennen, jetzt, da esmit ihm zu Ende gehe, aber sie hatte vom Sterben nichts hören wollen und war über sein Ansinnen hinweggegangen, bis sie ihn eines Morgens gefunden hatte. Er war einfach nicht mehr aufgewacht. Friedlich hatte er ausgesehen. Sie hatte sich mit einem Kuss auf die Stirn von ihm verabschiedet und ihm ein herrschaftliches Begräbnis bereitet. Ein Meer von Blumen hatte noch wochenlang sein Grab umgeben, da es am Tag nach der Beisetzung geschneit hatte und die Blumen in der Kälte konserviert worden waren.
Heinrich hatte in seinem Testament verfügt, dass Katty bis zu ihrem Lebensende auf dem Hof bleiben konnte. Aber auch Katty hatte keinen Erben vorzuweisen, und weil Heinrich hatte vermeiden wollen, dass der Tellemannshof der Stadt zufiel, hatte er vor seinem Tod einen Nachbarn adoptiert. Der würde eines Tages erben, und Katty dachte in diesem Moment, dass er ganz schön lange darauf würde warten können, wenn es nach ihr ging. Und wenn sie sich ihre Schwestern so anschaute, dann müsste der Nachbar aufpassen, dass er nicht vor Katty das Zeitliche segnete.
Die beiden tuschelten immer noch. Worüber sie sich wohl unterhielten? Vermutlich schmiedeten sie Pläne, wie sie ihre kleine Schwester aufziehen und den Tellemannshof unsicher machen konnten, freute sich Katty. Paula würde niemals wirklich auf den Hof ziehen, sie fühlte sich bei ihrer Tochter sehr wohl. Aber vielleicht würde sie ab und an für längere Zeit zu Besuch kommen. Katty überlegte einen Moment, wie es wäre, wenn sie drei Betten in ein Zimmer stellte. Dann könnten sie wieder so schlafen wie früher in Empel. Da hatten die beiden älteren
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