Wir sind doch Schwestern
Kein Jubiläum oder Geburtstag entgeht meiner Schwester, wenn man daraus ein Fest machen kann. Sie lässt das Dorf gern antanzen.« Anerkennendes Gelächter machte sich breit, und als dieses abgeebbt war, nutzte der Pfarrer die Gunst der Stunde und löste die kleine Runde auf. Katty und Paula blieben allein zurück.
»Ohne Heinrich wäre das alles nicht möglich gewesen«, nahm Katty den Faden noch einmal auf.
»Du warst schon immer gut darin, deine Botschaften unters Volk zu bringen.« Paula kannte ihre Schwester nur zu gut. Katty war seit dem Streit am Nachmittag als Heinrichs Anwältin unterwegs und wartete nur darauf, dass irgendjemand sie zum Plädoyer auffordern würde. Paula hatte keine Lust, dieser jemand zu sein, und ergänzte daher: »Ich bin schon katholisch, liebe Katty. Vor mir musst du Heinrich nicht verteidigen. Ich habe nie etwas gegen ihn gehabt.«
»Aber warum kann denn Gertrud nicht aufhören mit diesen ewigen Schuldzuweisungen? Ich kann es nicht mehr hören.«
»Du musst es doch am besten wissen. Man kann in Heinrich Hegmann beides sehen. Den Wohltäter und großen Politiker und den Machtbesessenen, der womöglich sogar Bruder und Ehefrau für seine Zwecke opfert. Und Gertrud hat sich für die zweite Version entschieden. Hör auf, dagegen anzukämpfen, dann kommst du eher ans Ziel.«
»Das kann ich aber nicht auf mir sitzen lassen. Ich muss mich doch verteidigen.«
»Wieso musst du dich verteidigen? Es geht um Heinrich, nicht um dich.«
Katty stand auf, ging zur Kommode und kramte einen alten Aktenordner hervor.
»Was ist das?«, fragte Paula misstrauisch. Alte, verstaubte Aktenordner weckten bei ihr ungute Erinnerungen.
»Die Scheidungsunterlagen von damals«, sagte Katty und Paula meinte, in ihrer Stimme ein leichtes Zittern zu hören. »Wenn du das liest, weißt du, warum ich auch mich selbst verteidige, wenn Heinrich angegriffen wird. Ich saß immer mit auf der Anklagebank.«
Warst du denn unschuldig? Die Frage stellte Paula nur sich selbst, sie wollte Katty nicht verletzen, und eine vernünftige Antwort hätte sie ohnehin nicht bekommen.
»Woher hast du die Akte?«, fragte sie stattdessen.
»Beim Putzen im Schrank gefunden. Als ich Gertruds Zimmer fertig gemacht habe.« Katty legte den Ordner auf den Tisch, und Paula streckte die Hand danach aus. Sie war verblüfft über den Umfang der Scheidungsakte. Ihre eigene bestand nur aus zwei Blättern Papier. Zwischen Alfred und ihr war am Ende alles sehr schnell geregelt gewesen.
»Was steht denn da alles drin?«, wunderte sie sich, zog den Ordner zu sich herüber und versuchte vergeblich, die verblasste Schrift zu entziffern.
»All die schlimmen Sachen, die diese Frau damals über mich verbreitet hat, in mehrfacher Ausführung. Und die Aussagen von bestimmt fünfzig Zeugen. Ein Großteil von denen war vorhin hier, oder zumindest ihre Kinder und Kindeskinder. Und ich muss zugeben, dass ich, vielleicht, weil ich die ganzen Vorwürfe noch einmal gelesen habe, heute Abend wirklich manchmal das Gefühl hatte, schräg angeguckt zu werden.« Paula wusste, dass Katty gerade ihrem Hang zum Theatralischen nachgab, beruhigte sie aber trotzdem.
»Das ist Unsinn, Katty, alle mögen dich. Du hast doch gehört, dass du die Mutter der Kompanie bist.« Paula überlegte einen Moment. »Wusstest du eigentlich nicht, was darin steht?«
»Ich kenne Details und weiß von den Zeugenaussagen. Aber diesen Ordner habe ich noch nie gesehen. Und es hat ein anderes Gewicht, wenn da solche Ungeheuerlichkeiten über dich schwarz auf weiß stehen. Es wirkt so amtlich, so wahr, selbst wenn es alles Lügen sind.«
Paula konnte genau nachvollziehen, was Katty meinte. Auch ihr war es mit Alfreds Enthüllungen so gegangen. Als sie sich einige Monate nach dem Ereignis im Gewächshaus einander wieder angenähert hatten, hatte Alfred ihr erzählt, wie es dazu gekommen war, wann und wo er zum ersten Mal bemerkt hatte, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Und all das hatte Paula wesentlich besser ertragen können als die Schriftform. Alfreds Tagebücher hatten bei ihr weit größere Verzweiflung ausgelöst als die Gespräche mit ihm.
»Ich glaube, es liegt daran, dass gesprochene Worte so flüchtig sind. Aber was niedergeschrieben ist, das kann man immer wieder hervorkramen, das ist kaum aus der Welt zu schaffen«, überlegte sie laut.
»Es sei denn, man verbrennt es«, fiel Katty ihr ins Wort, »und das habe ich versäumt. Vielleicht sollte ich es jetzt endlich
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