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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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zusammengekauert und geweint hatte. Im Grunde hatte ihn sein mangelnder Kampfesmut gerettet, glaubte er. Während die anderen johlend voranpreschten, war er vom Tod so erschüttert gewesen, dass er am Leben blieb.
    Die Tschechen zwangen ihn und seine Kameraden auf einen Fußmarsch. Sie waren zu sechst und bewaffnet, dagegen standen etwa zwei Dutzend Deutsche kurz vor dem Verhungern. Sie wanderten los Richtung Norden, und nach etwa zwei Wochen kamen sie mit zerschundenen Füßen in der Stadt Nikolayev an. Dort war ein Kriegsgefangenenlager, in dem sie erneut für einige Monate unterkamen. Bis zum Frühjahr 45 blieben sie dort, dann wurden sie auf sowjetische Militärlastwagen aufgeteilt. In der Dämmerung des zweiten Tages ließ der Kommandeur sie aussteigen. Alfred sprang vom Wagen und sackte sofort zusammen. Seine Muskeln waren wie Pudding. Der Kommandeur fuchtelte mit dem Gewehr vor seiner Nase herum und versetzte ihm einen Tritt.
    Alfred richtete sich auf und schaute sich um. So weit das Auge reichte, erstreckten sich blühende Wiesen, ein paar Felder, die darauf warteten, bestellt zu werden. Sonst nichts. Kein Hof, kein Haus, schon gar keine Stadt.
    Sie wurden mit dem Gewehr vor einen Graben geschubst und gezwungen, sich ins Gras zu knien, das Gesicht zum Graben, die Hände hinterm Kopf.
    Es lag eine gespenstische Ruhe über der Szenerie. Plötzlich luden die Tschechen die Gewehre durch, es klickte, sie schossen, doch niemand kippte in den Graben. Alfred wagte es nicht, den Kopf nach rechts oder links zu drehen. Man hörte keine Schreie. Nichts. Außer einem eklig kehligen Lachen hinter ihnen war es still. Alfred schloss die Augen und wartete auf so etwas wie Erlösung. Das hätte der Tod sein können, aber tief in sich spürte er eine merkwürdige Gewissheit. Er wagtenicht, diesem Gefühl nachzugehen, weil er Angst hatte, enttäuscht zu werden, aber etwas sagte ihm, er würde überleben.
    Die äußeren Anzeichen sprachen allerdings dagegen. Und dennoch, irgendwas stimmte nicht.
    In diesem Moment hörte er erneut das metallische Geräusch beim Durchladen der Gewehre. Er hielt den Atem an. Jäh vernahm er einen Schrei und ein Wimmern. Jemandem waren die Nerven durchgegangen, und schon knallte es. Erst einmal, zweimal, dann kam eine ganze Salve.
    Es schien, als würde die Zeit stehen bleiben. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Alfred einen stechenden Schmerz spürte. Er merkte, wie es in der Jacke seiner zerschlissenen Uniform warm und feucht wurde. Er blutete, das war sicher, aber er wagte weder zu gucken noch zu schreien. Er biss sich auf die Zähne und hoffte, bald ohnmächtig zu werden. Konzentriert auf die eigene Verwundung, bemerkte er erst Minuten später das Stöhnen. Sie waren alle getroffen, angeschossen, aber keiner war tot. Und es sollte auch keiner sterben. Es ging um Todesangst und Erniedrigung.
    Alfred fragte sich, wie lange er das durchhalten würde und ob am Ende doch noch ein Gnadenschuss käme. Er kämpfte gegen die Panik an. Zwei Kameraden kippten ins Gras. Alfred wusste nicht, ob ihre Peiniger schlecht gezielt und deshalb tödlich getroffen hatten oder ob diese Kameraden das Glück einer Ohnmacht ereilt hatte.
    Es schien Stunden zu dauern, bis die Soldaten mit einem Mal unruhig wurden. Man hörte Motorengeräusche, wirre Stimmen, dann wurden ihnen Gewehrspitzen ins Kreuz gedrückt und man bedeutete ihnen, aufzustehen.
    »Das sind Russen«, flüsterte einer, und in dem Moment wusste niemand, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Ihnen wurde zu verstehen gegeben, loszumarschieren, es ging erneut nach Norden, so viel konnte Alfred über denSonnenstand erraten. In fast jedem Dorf stießen weitere Trupps mit Gefangenen zu ihnen, und nach drei Tagen erahnten sie ihr Ziel: »Oświęcim 15« stand auf einem Schild. Ein paar Stunden später waren sie da. Der Gefangenenzug wurde aufgeteilt, und sie landeten zu zehnt in einer Baracke. Es gab Holzpritschen in ihrer Unterkunft und alte Strohsäcke, der Gestank war bestialisch. Es roch nach Schweiß, nach Blut, nach Angst.
    Erst später konnten sie sich aus Gesprächen mit den anderen Gefangenen zusammenreimen, was passiert war. Die tschechischen Soldaten waren mit ihnen bis an die Grenze des eigenen Landes gefahren. Aber letztendlich wussten ihre Bewacher nicht, wohin mit den deutschen Gefangenen. Ihr Land war noch besetzt, und als Untergrundkämpfer hatte man wenig von der Beute, es sei denn, man verkaufte sie. So waren sie dann wiederum in

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