Wir sind doch Schwestern
die Hände der russischen Soldaten gelangt, und die wussten das zu nutzen, was von den Gräueltaten der Deutschen übrig geblieben war: Auschwitz. Sie befanden sich nun in Sosnowitz, einem Außenlager von Auschwitz. Alfred hatte nur eine dunkle Ahnung von dem, was hier passiert war, aber der Name hatte einen eigenen Klang: Er stand für Untergang.
In diesem Sommer war es brütend heiß, doch den Männern ging es verhältnismäßig gut. Die Wunden waren verheilt, und man versorgte sie ausreichend. Zwischenzeitlich war der Krieg offiziell für beendet erklärt worden und das Lager samt Außenlagern und Kriegsgefangenen an die Polen zurückgefallen. Unter den Gefangenen hatten sich Grüppchen gebildet. Die einen dösten und dämmerten den ganzen Tag vor sich hin, andere gingen trotz Hitze und den kleinen Essensrationen an die Luft und bewegten sich. Wieder andere versuchten ihren Geist wachzuhalten, sie spielten Karten oder Brettspiele, die sie provisorisch mit Steinchen und Linien auf dem Boden angefertigt hatten.
Alfred und Hans, ein Bergmann aus dem Ruhrgebiet, gehörten zu denen, die sich körperlich fit halten wollten. Außerdem besaß Hans ein Skatspiel. Manchmal spielten sie zu dritt, manchmal zu zweit. Sie erzählten sich ihr Leben. Alfred erzählte von Paula und den Kindern, vom Hof in Empel und von seiner großen Liebe zu allem, was blühte. Hans war fast zwanzig Jahre jünger, er war ebenfalls verheiratet, aber kinderlos, irgendwie hatte ihnen, wie so vielen, der Krieg dazwischengefunkt.
Als sie den ersten Sommer in Sosnowitz hinter sich gebracht und die Polen sich und ihre Kriegsgefangenen ein wenig organisiert hatten, wurden die Deutschen zur Arbeit eingeteilt. Hans und Alfred meldeten sich nach Absprache gemeinsam für die Arbeit im Kohlebergbau. Im Nachhinein ein großes Glück, denn die Winter in Sosnowitz waren bitterkalt, und Alfred hatte nur noch eine dünne Uniform am Leib. Im Lager gab es kaum Decken, und wenn, dann waren diese so verwanzt, dass man es kaum ertrug. Die Insekten saugten sich nachts an den Körpern der Männer satt, und es gab keinen Einzigen im Lager, der nicht verzweifelt an sich herumkratzte. Im Winter schließlich, als die Temperaturen auch in den Baracken nachts bis zum Gefrierpunkt fielen, waren sie zwar endlich die Wanzen los, allerdings war die Kälte das ungleich schlimmere Übel. Kurzum, Alfred wäre möglicherweise erfroren, wenn er nicht einige Stunden am Tag in die warme Grube hätte einfahren können.
Anfang November begannen sie mit der Arbeit. Abends um sieben Uhr wurden sie das erste Mal auf den Appellplatz geholt, in einer Truppe von zwanzig Männern ging es los. Nach einer Stunde Fußmarsch wurden sie in eine Waschkaue geführt. Hier waren auch polnische Bergleute, die sie anzischten und vermutlich aufs Übelste beleidigten. Alfred war froh, dass er noch immer kein Polnisch gelernt hatte. So war er fast ein bisschen neugierig auf das, was ihn da unten erwartete. Jedervon ihnen bekam eine Grubenlampe, und damit ging es dreihundert Meter tief in die Erde hinab. Der Aufzug war nass und feucht, und anders als von Alfred erwartet, war es auch nicht richtig heiß unten im Flöz.
Ihre Aufgabe war es, den Wagen hin- und herzuschieben. Wenn er geleert war, wurde er vom Aufzug bis tief in den Schacht geschoben, dort wurde er gefüllt und von den Kriegsgefangenen zurückgeschoben. Die Arbeit war mühsam, im Schacht war es nass, und sie rutschten immer wieder aus. Selbst für Hans war diese Arbeit neu. So etwas machten bei ihnen die Grubenponys oder Esel. Direkt zu Beginn der Schicht legte er sich ordentlich ins Zeug, rutschte weg und klatschte auf den schlammigen Boden. Er war von oben bis unten verdreckt, was alle zum Lachen brachte. Hans lachte nicht. Er fragte sich, wie er den Rückweg ins Lager durch eisige Temperaturen überstehen würde, ohne sich eine Lungenentzündung zu holen. Der Aufseher hatte ein Einsehen. Er ließ Hans’ Kleidung nach oben bringen, in die Kaue, wo sie trocknen konnten, und Hans arbeitete in Unterhosen weiter.
Zu viert schoben sie an einem Wagen, wurden regelmäßig von den Polen angemault – und doch fand Alfred die Arbeit weniger schlimm als erwartet. Gegen fünf Uhr morgens waren sie fertig mit ihrer Schicht. Anders als die einheimischen Bergleute durften sie nicht in der Waschkaue duschen. Sie bekamen Brot und eine dünne Suppe, dann machten sie sich verdreckt und müde auf den Heimweg.
Als es langsam hell wurde, kamen sie im Lager an.
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