Wir sind Gefangene
gleichsam die langsam herannahende Gärung. Jeder Tag konnte den Umsturz bringen. Brotkrawalle vor dem Rathaus gab es, die Frauen schrien und es klang furchtbar. Die Polizei kam und drängte die Massen auseinander. Beschimpfungen hagelten auf sie nieder. Es lag eine finstere Wolke über den Häusern. »Revolution! Blutregiment!« schrie ein junger Mensch und wurde festgenommen. Die Menge stürmte auf die Polizisten ein und wollte ihnen den Verhafteten entreißen. Blanke Säbel blitzten auf, Tumult und Geschrei wälzten sich in die Seitengassen und Straßen. Fieberhaft tätig waren die Revolutionäre und viel hoffnungsvoller. Die vielen Verhaftungen beirrten keinen mehr. Jeder redete, jeder forderte die kühnsten Dinge, der Aufruhr stand in jedem Gesicht. Die Revolution mußte kommen, mußte !
»Generalstreik und Revolution im Innern!« forderten die Unabhängigen und Spartakisten.
»Vernichtung aller Maschinen! Streik! Einfach nichts, gar nichts mehr machen!« brüllte ich.
»Anarchist!« warf man mir entgegen. Ich hörte nicht drauf. Ich brachte meine Forderung abermals vor.
»Mensch, paß auf, morgen holen sie dich!« sagte ein Spartakist beim Auseinandergehen zu mir.
»Was scher' ich mich drum!« gab ich ihm zur Antwort.
»Angehen muß es jetzt! Unbedingt angehen!«
Erst wenn ich daheim im Atelier war, wurde ich wieder ruhiger. Ach ja, ich wollte ja eigentlich dichten und ganz für mich sein! Ich suchte den Professor öfters auf. Dann wieder den Roten-KreuzMann. Der Professor war Lehrer an der Universität, führte ein biederes Privatleben, las jeden Abend sein Kolleg über Byron, Goethe oder Ibsen, stammte aus einer gutbürgerlichen katholischen fränkischen Familie, machte einen ausgeglichenen Eindruck und hatte - wie es schien - seine festen Ansichten. Neben ihm zu gehen, war beruhigend. Ich hatte ihn gern. Er war weit über fünfzig und sprach mit einer in jenen Kreisen geläufigen Art mit mir. Er eiferte eigentlich gegen nichts. Er gehörte zu den Menschen, die das, was sie ablehnen, nie auszusprechen brauchen, bei denen man es aber sogleich herausfindet. Nie war das, was er vertrat, aufdringlich. Aber an allen seinen Äußerungen war etwas fühlbar Erzieherisches. Anerkennend und ehrfürchtig redete er von Krieg und Vaterland, würdig über alles. Nichts war bei ihm angeeignet, alles schien mit ihm aufgewachsen zu sein.
Der Mann vom Roten Kreuz saß jeden Tag in seiner warmen Stube in der Zentralstelle, besuchte abends die Hörsäle und bereitete sich auf das Doktorexamen vor. Er holte mich öfters ab zu den Vorlesungen, denn er und der Professor hatten gesagt: »Machen Sie sich die staatlichen Institute zunutze, Herr Graf.« Ich saß neben ihm in einem großen Hörsaal, zwischen anderen Studenten und Studentinnen, und schaute todernst auf den gelehrten Mann, der vorne hinter einem Pult stand und seine Ansichten über diese und jene geistige Frage darlegte. Zum Beispiel, ob Goethe an den alten germanisch-heidnischen Glauben angeknüpft oder durch seinen Faust etwa ein Bekenntnis zur vertieften Christlichkeit abgelegt habe. Es ging mir wenig in den zerstreuten Kopf, nichtsdestoweniger hörte ich aber mit aller Anstrengung zu.
Draußen auf den Straßen geht jetzt vielleicht schon der Aufruhr los, dachte ich, und eine Ungeduld faßte mich. Hier redet man von alledem, was jetzt überall wütet und geregelt sein will, nichts. Es scheint, die hier sind alle satt und haben nichts zu leiden.
Dann nahm ich mich wieder fester zusammen und hörte noch aufmerksamer zu. Bei meinen ersten Besuchen auf der Universität war ich scheu. Ich wagte stets nur mit dem Roten-Kreuz-Mann in einen Saal zu treten. Allmählich aber verlor sich diese Schüchternheit, und ich suchte auch andere Hörsäle auf.
Es war überall das gleiche. Höchstenfalls hatte dieser oder jener Professor eine tiefere oder hellere, eine deutlichere oder undeutlichere Aussprache. Hier zerredete einer eine Stunde wegen einer Wortwendung in einem mittelhochdeutschen Gedicht, dort erging sich einer über das psychologische Prinzip bei Nietzsche, ein anderer wieder lehrte über Gottesglaube und Götterverehrung im Altertum und in der Jetztzeit, und jener schließlich las über Strafrecht und seine Fundamente im modernen Kulturstaat. Ich schaute den Redner an, ich blickte auf die Studenten und Studentinnen ringsherum. Es kam mir vor, als hätten sie alle die gleichen Gesichter. Sie drückten die Bänke, hatten ab und zu ein Blatt Papier oder ein Heft
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