Wir sind Gefangene
läutete es zur Diskussion.
Meistens sprachen alte Arbeiter und auch einige Frauen. Einfach und derb redeten sie. Die Frauen wurden hitzig und forderten kühn, die Männer sagten das ihrige ruhiger. Die angelernten Phrasen, die sie anwendeten, gingen unter. Man überhörte sie. Offen, haßerfüllt redeten sie. Mir wurde warm dabei. Es überrieselte mich. Von da ab besuchte ich mit Schorsch fast allwöchentlich die Diskussionsabende der Unabhängigen, von denen jeder in der Stadt wußte. Ich traf immer mehr bekannte Leute dort. Ich dachte nicht mehr daran, eine Arbeit anzunehmen. Ich wartete gleichsam jeden Tag auf die Revolution und schrieb Gedichte auf sie. Stunden und Tage gab es, da war ich in einer fortwährenden Begeisterung. Es gab immer mehr Verdrießlichkeiten mit Selma, aber ich setzte mich jetzt leichter darüber hinweg.
Freilich, wenn ich allein war, wurde mir oft recht kläglich zumute. Das ist ja alles recht schön und gut, sagte ich mir, die reden und reden in einem fort von der nahen Revolution, aber angehen tut sie nicht. Immer ist es eine Versammlung und die hört dann auf, man geht auseinander, und alles ist wieder das gleiche.
Bedrückte Tage kamen. Ich weiß nicht, ob es anderen Menschen in meinem Alter zu damaliger Zeit auch so ergangen ist, aber ich habe bei mir deutlich beobachtet: Die Revolution war eigentlich etwas Unvorstellbares für mich, sie war gewissermaßen ein Zustand, dem alles zustrebte, was aber nach diesem Hereinbruch geschehen sollte, darüber war sich kaum wer klar.
Eines Tages hatte ich mit Schorsch eine hitzige Diskussion über dieses Thema. Ich schwärmte immer nur für Gewaltanwendung und »Losgehen«. Er sagte aber auf einmal sehr nüchtern: »Ja, wie stellst du dir das eigentlich vor? ... Glaubst du vielleicht, wenn die Revolution ist, dann brauchst du keine Stellung mehr annehmen? ...« Ich stockte und wußte nichts darauf zu erwidern.
»Genauso, wie jetzt, wirst du arbeiten müssen ... Es geht doch vorläufig um die politische Macht ... Bis dies bis ins einzelne kommt, derweil sind wir vielleicht alte Knacker ... Aber man muß einfach immer für die Beunruhigung sein«, setzte er mir auseinander. Das ernüchterte mich. Ich erwog schon wieder, eine Stellung zu suchen. Da geschah etwas Unerwartetes.
An einem Sonntagmorgen lagen wir im Bett, und ich sagte gerade zu Selma ziemlich verdrießlich: »Schlaf doch weiter! Das Schlafen ist eigentlich das einzige! Was sollen wir uns jede Viertelstunde vermisten! Es ist halt einmal so: Nur wenn man wach ist, kommt der Ärger und alles Widerwärtige! ... Schlaf einfach weiter! ... Man kann nichts tun als schlafen, bis die Revolution kommt!«
»Da wird's auch nicht anders!« erinnerte mich Selma schon wieder. Auf einmal klopfte es sehr stark an die Ateliertür, und »Herr Graf! Graf!« rief wer. Ich gab erst nicht an. Endlich, als das Klopfen nicht aufhörte, schlüpfte ich schnell in meine Hosen und öffnete die Tür. Der Herr vom Roten Kreuz stand vor mir. Ich war sehr verdutzt und machte mit Gewalt ein freundliches Gesicht.
»Ich hab' nämlich lang in der Nacht gearbeitet«, entschuldigte ich mich. Der Mann war heiter, trat ein und sagte mit einem menschlichen Pathos: »Graf! Ich hab' eine sehr gute Nachricht für Sie. Der Professor hat Ihre Gedichte gelesen. Sie gefallen ihm sehr. Sie bekommen auf drei Monate vorläufig ein Stipendium, das er verwaltet.«
Er schaute mich an, als wollte er die Wirkung feststellen. Ich wußte nicht gleich, was ich für eine Miene machen sollte, und stotterte fast fassungslos heraus:
»Hja-ja, jaja, das ist - hja, Herrgott, dankschön! - Das ist ja wie ein Wunder ...«
»Nein nein, Graf, Sie sind ein großer Dichter«, ermunterte mich der Mann und erzählte, daß der Professor mein Gedicht Die Zwanzigjährigen direkt verschlungen habe. »Man weiß ja nicht, was einer für eine Begabung hat«, meinte er hinwiederum, »aber der Herr Professor meint, das war' Drama ... Sie wären Dramatiker ... Sie sollten's mit einem Drama versuchen.«
Ich lächelte, er lächelte. Ich konnte nichts sagen. Monatlich sollte ich hundert Mark bekommen. Ich dachte an unsere Misere, an Selma und nickte zu allem, was der Mann sagte. Es war eiskalt im Atelier. In Hemdsärmeln stand ich da und wagte nicht, mich anzuziehen, draußen im Zimmer hörte ich bereits Selma. Ich fror, der Herr bekam das Nasentropfen und redete unablässig über Kleist und Dichtung, über Ethik und über alles mögliche.
Von Zeit zu Zeit
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