Wir sind Gefangene
vor sich und notierten. Hin und wieder strampelten sie oder scharrten mit den Füßen wie unartige Schulkinder, dann gingen sie wieder weg mit ihren Mappen. Ich sah noch genauer hin und dachte alsdann über die Laufbahn eines solchen Menschen nach. Also so etwas wird nach einer Reihe von Jahren wieder Professor und steht auch wieder da vorne hinter dem Pult und redet? Und die? Die werden Richter und richten uns. Diese werden Pfarrer, predigen und halten Messe, und die treten später in den Staatsdienst, fangen als niedere Leute an, vermählen sich züchtig, werden befördert, bekommen Titel und Rang und regieren uns schließlich.
Die Universität also, das war die Einrichtung, wo man immer und immer, Jahre hindurch, zuhört und dann noch soundsoviel Bücher durchliest, und endlich wird man etwas.
Das gibt sodann die gebildete, bessere Gesellschaft. Die Arbeiter arbeiten, die Bauern pflügen und ernten - diese Leute aber sagen, was richtig und falsch, was gesetzlich und ungesetzlich, sittlich und unsittlich ist. Mit einem Wort, diese Leute geben den Ton an, sie befehlen.
Hier wurde mit »Geist« hantiert, hier lernte man alle Dinge des gesunden Menschenverstandes so umzumodeln, jedes Wort und jeden Begriff so vieldeutig zu machen, daß der einfache Mensch davon verwirrt wurde und Respekt davon bekam, ja, noch mehr, sogar - eine undefinierbare Furcht.
Und das? Das machte ihn dann dieser Gesellschaft gefügig. »Wissen Sie, lieber als all diese Studenten und Studentinnen, die jeden Monat von daheim ihr Geld bekommen und hinten und vorn nichts, gar nichts vom Leben kennen, lieber ist mir doch der nächstbeste Lumpensammler!« sagte ich zum Roten-Kreuz-Mann. Der fing sofort an, mich zu belehren.
»Aber Herr Graf!« rief er. »Herr Graf, Sie sind Rationalist! Sie sind durch und durch mechanistisch eingestellt! Sie müssen denken, die Universität ist eigentlich ein geistiger Staat! ... Die Universität ist die höchste sittliche Warte!« Und schon kam er ins Eifern: »Zu Luthers Zeiten zum Beispiel war sie der Sammelpunkt der ethisch Reifsten aus dem ganzen Volk! ... Das soll auch heute noch so sein und ist auch meistens noch so.«
»Ja, aber das - das kostet doch eine Masse Geld da drinnen ... Ein armer Mensch kann da doch gar nicht hingehen«, erwiderte ich plump und gehässig und fuhr gleich weiter: »Wenn keine Universität und all diese schönen Sprüche nicht mehr sind, deshalb geht die Welt genauso weiter! ... Ethisch Reifsten, sagen Sie? ... Die da drinnen können leicht gut und gebildet und anständig und weiß Gott was sein, sie haben keinen Hunger und die besten Aussichten!« Der Mann warf sich förmlich auf mich. »Aber Herr Graf, Sie müssen doch bedenken, daß der Mensch nicht allein vom Brot lebt, und wir sind doch eine Nation, ein Staat!« rief er und nahm mich in seine Wohnung mit.
»Staat, Nation? ... Das sind bloß alles fixe Ideen! Alles bloß Erfindungen der Oberen! Wir brauchen bloß Menschen!« erwiderte ich polternd.
Die Frau des Mannes redete jetzt auch. Der Mann fing wieder von Kleist an, vom sittlichen Kern der Nation, vom deutschen Geist. »Ah, Geist!« brummte ich plötzlich geringschätzig und mißmutig. »Immer heißt's gleich, man muß Geist haben und Charakter haben ... Ich hab' die zwei Sachen nicht gelernt.«
»Ja, aber Sie dichten doch, Graf! Der Dichter ist überhaupt das Allergeistigste!« trieb mich der Mann in die Enge.
»Ja, ich will ja eigentlich bloß Unterhaltungsschriftsteller werden«, sagte ich in Ermangelung einer besseren Widerlegung und teilweise aus reiner Wut. Er sah mich lächelnd an, seine Frau schüttelte verzeihend den Kopf.
»Ja, zu was schreiben Sie denn dann Gedichte?« fragte der Mann. »Das - das sind nur Übungen«, erwiderte ich wie vorhin, »das andere kann ich eben noch nicht.« Ich wollte abstoßen, aber die Leute fingen immer wieder mit Belehrungen an. Die Frau hatte die Zeitung in der Hand, schlug sie auseinander, las laut über einen kleinen Fortschritt unserer Truppen im Westen und sagte jammernd: »Um Gottes willen ... Entsetzlich, die neunte Kompanie! Wird doch meinem Bruder nichts zugestoßen sein?« Ich sah flüchtig auf die Titelseite. In fettgedruckten Lettern las ich fliegend: »Revolution in Rußland! Kerenski gestürzt! Petersburg und Moskau in der Gewalt der Revolutionäre! Arbeiter-und-Bauern-Regierung in Rußland!« Es durchzuckte mich wie elektrisch. Ich sprang auf die Zeitung und starrte auf die Botschaft, daß die zwei fast
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