Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
Vom Netzwerk:
zurückwichen.
    »Mensch!« stieß ich jäh heraus, »Mensch! Die Revolution! Revolution!« ich achtete auf nichts mehr. »Die Revolution fängt an! Auf der ganzen Welt! Es wird ganz, ganz anders!« sagte ich wie in einem Rausch. »Jetzt geht die neue Zeit an!«
    »In Rußland!« sagte die Frau und bekam bereits ein hartes Gesicht. »Sie sind Romantiker, Graf!« meinte der Herr.
    Ich rannte auf und davon, die Treppen hinab, jagte Straßen lang, kam in Schweiß und schnaubte fliegend.
    »Revolution! Revolution!« summte, brummte, sang, pfiff, keuchte ich, als ich zu Schorsch ins Atelier stürzte: »Juch-hee, jetzt geht's an ... Und nichts wie weg mit den Universitäten und all diesem geistigen Mist! Revolution!« Schorsch wußte schon alles. Fieberhaft lasen wir die Berichte. Erst nach einer Weile kamen wir wieder ins rechte Geleise.
    »Jetzt muß es bei uns auch bald angehen, vielleicht schon heut' oder morgen!« jubelte ich.
    »Du«, sagte Schorsch dann gedämpfter, als fürchte er, es höre jemand zu. »Jung hat geschrieben ... Ein Mann kommt, wahrscheinlich ein Deserteur ... Wir sollen ihn unterbringen.« »So?« sagte ich halb fragend und halb gleichgültig. »Dann wird's wohl gut sein, ich halt' mich jetzt sehr zurück, damit die Spitzel nicht aufmerksam werden, sonst fassen sie uns und den Mann ... Warten wir mal ab.«
    »Ja, es wird am gescheitesten sein«, meinte mein Freund. Ich ging. Auf den Straßen war es ruhig. In mir brannte es lichterloh. Ich mußte immer wieder an die Gesichter in der Universtät denken, wie sie dahockten, unberührt und überheblich, gleich und gleich. Ich vergegenwärtigte mir, was nun, wenn plötzlich der Aufruhr losbreche, alles geschehe. Ich dachte an den Professor, an den Roten-Kreuz-Mann und seine Frau und an alle diese Leute, die immerzu von Vaterland und Krieg und Hindenburg und Kaiser und Ludendorff als von etwas Höherem sprachen.
    Soweit ich zurückdenken kann, hat keiner in unserer Familie jemals eine ausgesprochene Neigung fürs Vaterland gehabt. Gesetz, Patriotismus und Kriegsbegeisterung waren uns allen fremd. Mit Ausnahme meines älteren Bruders Max hat keiner meiner Brüder oder Schwestern je etwas von Beamten- oder Soldatensein und von Institutionen des Staates und des Militärs gehalten, im Gegenteil, wir fanden dies alles mehr oder weniger lächerlich und verschroben. Meine Mutter haßte niemanden so wie den Gendarm und log aus Instinkt, wenn ein solcher ins Haus kam und sie ausfragen wollte über unsere Streiche. Selbst mein Vater, der den Feldzug Anno 1870/71 treu und redlich mitgekämpft und eine steife Hand, das Eiserne Kreuz, seine geschwollenen Füße und lockeren Zähne daraus zurückgebracht hatte, selbst er, der Kriegsepisoden und Soldatenstreiche mit richtiger Lust erzählte und sein Leben lang eine große Neigung für Bismarck hatte, selbst er haßte nichts mehr als das Militärische, Vaterländische, Feldwebelmäßige. Diese fast blutsmäßige Abneigung gegen jegliche uniformierte Wichtigtuerei ging bei ihm soweit, daß sie sich selbst auf Leute wie den Schullehrer, den Veteranenhauptmann, auf den Bürgermeister und den Advokaten, kurzum auf alle Menschen erstreckte, die den Geruch von einer Amtshaftigkeit ausströmten. Soviel mir erinnerlich ist, hat er nur ein einziges Mal die ortsübliche Gemeindeversammlung besucht und bei dieser Gelegenheit den Bürgermeister derartig unübertrefflich persönlich beleidigend beschimpft, daß der dickbauchige, rothaarige Bauer buchstäblich in Tränen ausbrach. Jemand, der ein Amt ausübte, war für meinen Vater ungefähr soviel wie ein betrügerischer Faulenzer, der auf Kosten der Gemeinde oder des Staates einen gerichtlich nicht belangbaren Schwindel betreibt. Nichts war ihm so zuwider, als in einer von der Allgemeinheit anerkannten Würde zu stehen, wiewohl er populäre Beliebtheit nicht nur sehr achtete, sondern sie auch anstrebte. Griesgram war er nicht im mindesten. Auch nicht verkniffen gehässig, streitsüchtig oder bösartig. Er liebte über alles eine heitere, laute und ganz und gar ungenierte Geselligkeit und konnte wahrhaft bestrickend unterhalten. Geriet er aber an irgendeine Amtsperson, so verlor er sogleich die Laune. Galt es einer solchen einen Streich zu spielen, war er sofort dafür eingenommen. Er ersann sogar selber alle Möglichkeiten, und ich weiß Fälle, bei denen er uns Buben und dem Gemeindediener Schmalzer oft eine ganze Mark schenkte oder den Bäckergesellen Bier bezahlte, wenn wir etwas

Weitere Kostenlose Bücher