Wir sind Gefangene
ging er ganz nahe an mich heran und schaute mir in die Augen. Ich raffte mich immer wieder zu neuer Interessiertheit auf. Eine Stunde verlief. Todunglücklich war ich schon wieder, mein Magen knurrte, und ich spürte gleichsam, wie Selma draußen fror und wartete.
Schlotternd sagte ich immerzu: »Jaja, das ist sehr gut! Sehr gut! ... Jaja, seh'n Sie, da treffen wir uns ... Ja, mein Gott, der Kleist! ... Wissen Sie was? ... Ich glaub', ich schreib' wirklich ein Drama ... Jaja, sehr richtig ... Hm, ja ... Jaja, der Kleist ... So was passiert nur in Deutschland ... ja, hm — hm ...«
Wie abwesend war ich schon, und endlich, endlich ging Herr Mann. Ich rannte in das Schlafzimmer. Da stand Selma und schlotterte. Ihre Kleider hatte sie im Atelier und wollte nicht herauskommen. Im Bett wollte sie auch nicht liegen bleiben. Sie weinte.
»Wein' doch nicht! ... Was sollt' ich denn tun! Hast du gehört, hundert Mark krieg' ich im Monat.« Sie nickte und hustete in einem fort.
»Mich hat ja auch so gefroren, aber - freu' dich doch, jetzt wird ja alles viel besser, wein' doch nicht, du, du ...!« Sie nickte wieder und versuchte zu lächeln. Ich machte rasch Feuer.
»Jetzt sind wir über Wasser!« rief ich von Zeit zu Zeit unterm Teetrinken.
»Du tust grad, wie wenn die hundert Mark die Welt wären!« dämpfte sie meinen Enthusiasmus. »Mein Gott, freilich hilft's uns viel, aber gar so arg ist das nicht ...«
»Ja«, sagte ich zum Schluß vergrämt und zynisch: »Gescheiter war's gewesen, wir hätten weitergeschlafen ... Schlafen, jaja, schön schlafen, das regt nicht auf.«
Am andern Tag ging ich auf die Bank und bekam auf den Scheck, den mir der Mann vom Roten Kreuz gegeben hatte, das Geld. Abends steckte ein Zettel im Briefkasten, ich sollte übermorgen in die Universität kommen, nach der Vorlesung wollte mich der Professor kennenlernen. Triumph und Neugier tobten gleich stark in mir. Ich rannte zu Schorsch und erzählte. »Schreib halt ein Drama!« sagte der. »Ja, mein Gott, aber ich hab' doch gar keinen Stoff! ...
Das ist doch der Teufel! ... Da muß doch was passieren drinnen! ... Stoff, Stoff!« rief ich, setzte aber schließlich doch sorgloser hinzu: »Aber in drei Monaten kann viel passieren! Da wird's vielleicht schon.«
Am angegebenen Abend traf ich den Roten-Kreuz-Mann pünktlich vor dem Vorlesesaal des Professors in der Universität. Nach kurzer Zeit strömten die Studenten und Studentinnen heraus, und ein Herr in schlichter, sauberer Kleidung, der sehr viel Ähnlichkeit mit Nietzsche hatte, kam auf uns zu.
»Das ist der Herr Graf, Herr Professor«, sagte der Rot-Kreuz-Mann, ich machte eine ungeschickte Verbeugung mit dem Kopf und reichte dem Professor die Hand. Schüchternheit und konfirmandenhafte Spannung engten mich ein. Bald aber hatte der Professor all dies weggescheucht. Er war mir schon nach den ersten Worten sympathisch. Etwas beruhigend Solides und Offenes stand in seinem Gesicht. Sein Gebaren hatte nichts von dem, wie ich mir einen Professor vorstellte. Wir gingen auf die Straße und redeten viel. Mit einer ungewohnten Achtung sprach der Professor von meinen Gedichten. Ganz fremdartig klang alles.
»Wissen Sie, Herr Graf, Sie sind schöpferisch ... Solche Leute sind heute sehr, sehr selten und der Krieg reißt uns die besten Kräfte weg«, sagte er, »bei Ihnen drängt es ... Das ist alles echt, ganz echt... Ich war wirklich erschüttert von Ihren Gedichten ... Die Zwanzigjährigen , mein lieber Herr Graf, das ist ja Drama! ... Das ist - so wie es dasteht - absolut Drama ... Ich glaub', Ihre Begabung ist dramatisch ...«
Er sprach wie ein herzlich besorgter Mensch. Ich wurde verlegen, aber eine eigentümliche Rührung stieg in mir auf. Zum erstenmal in meinem ganzen Leben lobte mich wer. Ich bekam ein leises Selbstbewußtsein und gestand mir zuinnerst, du mußt doch was können, wenn schon einmal ein Professor sowas sagt und dich unterstützt! Wie ein braver Schulbub kam ich mir vor, der von seinem Lehrer unverhältnismäßig belobigt wird. Ich wagte kaum aufzusehen und hatte in einem fort den Wunsch, recht gewählt zu danken. Von allerhand redete ich. Es klang sicher ungeschickt, und immer wieder sagte ich verwirrt: »Dankschön.« Dann äußerte ich meine Absicht, ein Drama zu schreiben, und während ich so dahinredete, wurde mir dies ungefähr so etwas wie eine Schulaufgabe.
Der Herr vom Roten Kreuz hatte sich verabschiedet. Wir gingen noch eine Strecke zusammen.
»Herr Graf, ein
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