Wir sind Gefangene
raunte es von Ohr zu Ohr. Das trieb uns erst recht an.
Aber es kam anders. Der Posten warf sofort sein Gewehr weg und ging mit uns. Durch das große Tor liefen wir, geradewegs in den weiten Hof. Merkwürdig, da stand ein Offizier älteren Jahrgangs vor gradlinig aufgestellten Soldaten und kommandierte Übungen. Er kam nicht einmal dazu, sich umzudrehen. Einer schlug mit aller Gewalt von hinten auf seinen Kopf und trieb ihm den Helm bis tief unter die Ohren. Lautlos sank der Getroffene um, und schon in der nächsten Sekunde schlugen die Soldaten wie auf Befehl ihre Gewehre auf den Boden, daß sie krachend auseinanderbrachen. Lachend liefen sie über. »Aus ist's! Revolution! Marsch!« hörte ich im Tumult. Ein Älpler juchzte wie beim Schuhplatteln. Seitlich in einem Menschenhaufen hielt einer eine Rede und forderte auf zur Gründung eines Soldatenrates. Der Zug marschierte ins Freie, gegen die Militärarrestanstalt. Die war rundum verschlossen und lag still da. Leitern und Wagendeichseln wurden herbeigeschleppt, Steine flogen gegen die vergitterten Fenster, Drohrufe erschollen, einige Soldaten schlugen mit Gewehren und Beilen auf die verschlossene Tür, und schon wollte alles Sturm laufen. Da tat sich die Tür auf, und alles jagte in den Gang. Ich wurde förmlich mitgeschleift und fand mich erst oben in den kalten, dumpfriechenden, lärmerfüllten Gängen wieder. Noch heute sehe ich, wie sich die Zellentüren öffnen und die Häftlinge herauskommen. Einer schaute uns groß und fremd an, zuckte und fing plötzlich herzzerreißend zu schluchzen an. Dann fiel er matt einem kleinen Mann an die Brust und klammerte sich an ihn. In einem fort heulte er: »Da-ankschön! Dankschön! ... Ver-vergelt's Gott!«
»Rache!« gellte es und wiederholte sich: »Rache den Schindern!« Sofort fingen Leute an, die Wärter und Beamten zu suchen. Drunten hörten wir einen Höllenlärm und Niederschlagen von Stöcken und Gewehrkolben. Dann wieder schrie wer: »Ruhe! Ruhe!« Anscheinend lynchte man wen. Sehen konnte ich nichts. Bloß so nebenbei sagten Leute: »Die sind schon hin!«
Über allen Lärm hinweg schrie es dröhnend: »Alles raus! Truppen rücken an!« Kopflos, in wildem Galopp stürzte alles ins Freie, und erst drunten erfuhr man, daß gar nichts sei. Da und dort standen Rotten mit je einem Redner, der sofortige Bildung von Soldatenräten forderte. Endlich ging es der Stadt zu. Die Straßen schienen zu eng, alles und jeder flutete mit. Ab und zu kam ein Offizier ins Gemenge, Stöße gab es, die Epauletten wurden ihm heruntergerissen, die Kokarde. Keiner setzte sich zur Wehr. Die meisten waren verstört und totenblaß. Einige gingen sogar gleich mit dem Zug. Am Isartorplatz rannte ich in den Friseurladen, zu Nanndl. »Revolution! Revolution! Wir sind Sieger!« schrie ich Nanndl triumphierend an. Sie ließ die Brennschere fallen und strahlte. Ich war schon wieder weg.
Gegen acht Uhr abends ungefähr landeten wir über der Isar, im Franziskanerkeller . Dort erfuhren wir, daß die Mehrheitssozialdemokraten unter Auers Führung mit Musik, ganz züchtig und geordnet, durch die Stadt gezogen waren und sich am Maxmonument zerstreut hatten. Ein wüstes, bellendes Gelächter erscholl bei dieser Kunde. »Scheißkerle! Schulbuben!« spottete jeder.
»Das ist die Armee der Reaktion!« schrie wer, und »Jawohl! Jawohl!« antwortete es von allen Seiten. Unschlüssig stand die gestaute Masse da. Es hieß, Eisner würde im Saal sprechen. Die Revolution hatte gesiegt. Alles war in ihren Händen, Post und Telegraph, Bahnhof und Residenz, Landtag und Ministerium. Ich hatte Hunger.
»Gehn wir in die Wirtsstube und essen und trinken was«, sagte ich zu Schorsch. Wir drängten uns durch und traten in das rauchige Lokal. Da saßen breit und uninteressiert Gäste mit echt münchnerischen Gesichtern. Hierher war nichts gedrungen. »Wally, an Schweinshaxn!« rief ein beleibter, rundgesichtiger Mann der Kellnerin zu. Dort aß einer, dort spielten sie Tarock wie immer. Niemand kümmerte sich um uns.
»Mensch! So was!« konnte ich nur herausbringen, so verblüfft war ich. Wir bestellten Bier und Wurst und schlangen alles hastig hinunter. Ich horchte aufmerksam, ob nicht doch irgend jemand wenigstens ein Wort über die Geschehnisse sagen würde. Nichts, gar nichts davon!
»Wally, an Schweinshaxn!« Dies schien hier die einzige Situation zu sein.
Als wir aus dem Lokal kamen, waren die Massen weg. Wir eilten in die Stadt. Dort erfuhren wir, im
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