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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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sagte ich. Eine Pause entstand. Ich wußte absolut nichts zu sagen. In meinem Kopf drehte sich alles.
    »Das Kind ist kerngesund, sagt die Schwester ... Wir sollen es bald hinaustun«, meinte Selma wiederum. Ich riß mich aus meinen Gedanken.
    »Jaja ... Ich muß es heimtun ... Das ist das beste«, hastete ich mechanisch heraus.
    Ich ging heim und schrieb einen langen Brief an meine Schwester Theres, in dem ich das Kind ankündigte. Ich lobte Selma und stellte unsere Ehe als etwas ganz Besonderes hin. Während ich die Sätze niederschrieb, dachte ich in einem fort, das ist ja alles nicht wahr, das ist ja purer Lug, aber ich wollte keinen über mich triumphieren lassen. Sie sollten nicht rechtbehalten mit ihren damaligen Mahnungen. Lieber die dicksten Phrasen, bloß keinem sein Unglück zeigen, am allerwenigsten den Geschwistern. Es schauderte mir vor der Zukunft, aber ich schickte den Brief ab. Dann suchte ich den Professor auf. Ich brannte vor Neugier, was der wohl alles zur Revolution sagen würde.
    »Was sagen Sie jetzt, Herr Professor?« fragte ich. »Das hat keiner geglaubt.« Er zuckte die Achseln und schien fast ein wenig verlegen zu sein. Wir gingen durch den kahlen, verlassenen Englischen Garten.
    »Ich bin vielleicht zu alt dazu, Lieber«, meinte er nachdenklich, »aber das ist ganz gut, daß dieses ewige Herumparlamentieren endlich aufgehört hat ... Was hat man gemacht? Geschwatzt ... Nichts als geschwatzt ... Das mit den Räten leuchtet mir ein ... Ich meine so etwas wie eine Ständevertretung ... Das ist sicher besser, weil es unmittelbar aus dem Volk herauswächst ... Nur - ob sich eben die richtigen Männer finden werden.«
    Zum erstenmal kam es mir vor, als sei dieser fest in sich beschlossene Mann unsicher. Eigentlich kam mich eine geheime Lust an, nun auf einmal mit meinen revolutionären Sprüchen auszupacken. Allein ich hielt mich zurück und wußte nicht warum. Ich sprach nichts mehr über die Ereignisse und sagte vorsichtig tastend: »Bei mir fängt jetzt auch was ganz Neues an, Herr Professor ... Ich glaub', Sie werden das alles ablehnen und nicht verstehen ... Ich glaub' nämlich, ich hab' alles bis jetzt falsch gemacht ...« Ich wollte mit ihm über meine verpfuschte Ehe reden, ich hatte einen großen Wunsch, zu erfahren, was er sagen würde, wenn ich auf einmal von Selma wegginge. Eigentümlicherweise aber wagte ich es doch nicht. »Soso ... Na, was wird denn geschehen?« fragte er halb lächelnd.
    »Ja ... ja, da-darüber kann ich eigentlich gar nichts sagen«, wich ich aus, und er forschte nicht mehr weiter. Ich ärgerte mich über meine Feigheit.
    Sonst bist du immer der blutigste Revolutionär, dachte ich, dieser Mann ist auch nur ein Mensch wie du, ißt wie du, geht auf den Abort wie du und stirbt eines Tages wie du, warum hast du denn eine solch dumme Angst vor ihm? Ich haßte ihn zeitweise und fürchtete ihn doch, ich liebte ihn und war ihm doch fremd, völlig fremd. Jedesmal nahm ich mir fest vor, ihm klar heraus zu sagen, was meine Ansicht sei, jedesmal aber log ich ihm und mir etwas vor.
    Dabei war der gute Mann weder eine faszinierende Persönlichkeit noch ein versessener Parteigänger, der alle meine Auffassungen schlagend widerlegte. Geistige Freiheit schien ihm höchst schonenswert, und mein sonstiges Tun und Lassen kümmerte ihn nichts. Das Stipendium verpflichtete mich zu nichts, ja, es war ihm schon zuwider, wenn ich mich dafür bedankte. Seine ganze Sympathie galt nur meinen Gedichten.
    Was also machte mich denn ihm gegenüber immer und immer wieder zum scheinheiligen Schulbuben? Er schenkte mir doch faktisch Geld, und von Kind auf hatte ich wahrgenommen, daß man nur für handfeste Arbeit Lohn bekommt. Reine Guttaten waren mir fast unverständlich, und das bißchen Verseschreiben war doch eine recht fragwürdige Gegenleistung. Aus bloßer Verehrung spickt man doch schließlich keine Gans! Ich stand wirklich vor einem Rätsel. Und wie es mir da erging, so war's bei allen anderen Dingen. Ich hatte geheiratet und mußte für meine Frau sorgen. Ihr einfach davonzulaufen, das ging doch nicht. Das gehörte sich einfach so, überall so! Hingegen hatte ich mich in den wenigen Wochen in das Fräulein verliebt und, ohne Übertreibung, furchtbar. Das machte mich zeitweise völlig verwirrt. Ich vergaß alles. Alle Tage liefen wir stundenlang herum und redeten unablässig. Wenn es stockte, bekam ich Herzklopfen. Ein wahrer Schwindel befiel mich, alles in mir rumorte. Ich fühlte den

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