Wir sind Gefangene
als sei er ganz mit sich allein beschäftigt: »Das ist der Mondlauf ... Die selbige von Ingolstadt hat siebenunddreißig Nägel und Glasscherben gespien ... Da - das heißt man alsdann Hexenglauben, net? ... Net wahr? ... Aber ihr werd's es schon sehen ...« Ich erinnerte mich an die Geschichte mit der Besessenen, die Glasscherben und Nägel spucken mußte. Er erzählte sie meistens im Zusammenhang mit Bibelsprüchen.
»Ach was! ... Gehn wir jetzt«, sagte ich ärgerlich und riß die Tür auf. In sich hineinbrümmelnd folgte er.
Im Krankenhaus, vor Selmas Bett, fragte er kaum, wie es gehe. Gleich fing er wieder mit den Bibelsprüchen an, vom baldigen Anbruch des tausendjährigen Reiches redete er und verwob seltsame Erklärungen damit. »Wie geht's dann dir?« fragte Selma.
»J-ha, mir? ... Das siehst ja! ... Ich brauch' mich nichts fürchten«, stieß er heraus und musterte uns beide ungefähr wie ein Mensch, dem der Himmel offen stand, und der sich freut über die verdammten Höllenmenschen um sich. Wir ließen ihn reden.
»Was ist's denn mit eurer Revolution?« fragte mich Selma zwischendurch.
»Ja, die wird nimmer lang aus sein«, meinte ich teilnahmslos. Der Alte lachte und schielte auf uns. Er deutete mit dem ausgespreizten Zeigefinger auf mich und sagte auf einmal: » Der ? ... Der lauft dir ja doch davon! ... Wirst es schon sehen! ... Mir hast ja nie was geglaubt...«
Selma lächelte. Ich schnitt ein peinliches Gesicht.
»Lauter Schmarrn redest du daher!« murrte jetzt Selma den Alten an. Aber der hörte nicht. Er hockte da und schaute leer in die Leere. Die verwurzelten Hände hatte er lässig gefaltet und auf den spitzen Knien liegen. Er schien wirklich nicht mehr auf der Welt zu sein. Seine schmutzigen, zerschlissenen Kleider hingen an ihm, teilnahmslos war sein faltiges, bärtiges Gesicht, stumpf waren seine Augen. Die Kranken rundherum schauten fast furchtsam auf ihn. Tonlos zitierte er schon wieder: »Und kündlich groß ist das gottselige Geheimnis: Gott ist offenbaret im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, geprediget den Heiden, geglaubet von der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.« Ich ging mit ihm.
Auf den Straßen sah ich große gelbe Anschläge mit fetten Lettern, die vor Ausschreitungen warnten. Verfügungen waren es gegen die zu erwartenden Demonstrationen. Sozialdemokraten und Unabhängige forderten die Massen auf, heute nachmittag um drei Uhr auf der Theresienwiese zu erscheinen.
»Ja, ich muß jetzt gehen«, sagte ich zum Alten und ließ ihn in die Straßenbahn steigen. Eilsam suchte ich Schorsch auf.
»Heut' kann sich was entscheiden«, meinte mein Freund, als wir uns auf den Weg machten. Wir trafen etliche Bekannte. Eine Arbeiterin riß jeden Verfügungsanschlag herunter. Ab und zu schrie sie: »Hoch die Revolution!« Schutzmann war keiner zu sehen. Je näher wir der Wiese kamen, desto mehr Menschen wurden es. Alle hatten es eilig. Vor der Bavaria waren dichte Massen und wuchsen von Minute zu Minute. Auf den Hängen und von den Treppen des Denkmals herab redeten Männer. Da und dort sah man eine rote Fahne aufragen. »Hoch!« schrie es, dann wieder »Nieder!« Die Menge schob sich unruhig ineinander, Gedränge entstand. Wir fanden endlich Eisner, der weither von einem Seitenhang herunter schrie ... Wenn er einen Augenblick Atem holte, klangen die Stimmen der anderen Redner auf. Immer mehr und immer mehr Leute kamen. Unabsehbar war die Schar der Zusammengeströmten, wie ein Ameisenhaufen, schwarz und bewegt.
»Herrgott, heut' ist ja ganz München da ... Da wär doch was zu machen! Hoffentlich gehen sie heut' nicht wieder heim und tun nichts«, sagte ich zu Schorsch. Ein bärtiger Hüne in Militäruniform hatte es gehört, lächelte überlegen und meinte superklug: »Nana, heut' gehn wir net hoam ... Heut' geht's ganz woanders hin ... Gleich werd's losgehn.«
»Es lebe der Friede!« schrien in diesem Augenblick um mich herum die Leute. »Frie-ie-iede!« pflanzte sich fort und scholl weithin. Und brausend riefen alle: »Hoch Eisner! Hoch die Weltrevolution!« Ungefähr eine Minute war es still. Von der Bavaria herüber drangen Beifallsrufe. Wir drängten uns über den Hang hinauf. Plötzlich schrie Felix Fechenbach in Feldgrau laut und beinahe kommandomäßig in die bewegte Menge: »Genossen! Unser Führer Kurt Eisner hat gesprochen. Es hat keinen Zweck mehr, viele Worte zu verlieren! Wer für die Revolution ist, uns nach! Mir nach! Marsch!« Und mit einem
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