Wir sind Gefangene
Mathäser-bräu sei Arbeiter- und Soldatenratswahl. Überall auf den Straßen herrschte regstes Leben. Trupps und Rotten standen da und dort. Gerüchte flogen durch die Luft. Keine Trambahn fuhr.
Vor der Residenz gingen viele Menschen auf und ab wie bei einem Bummel. Hin und wieder schrie jemand Drohungen zu den dunklen Fenstern empor. Die rote Fahne wehte schon über der Wache. Ich verließ meinen Freund und holte das Fräulein.
»Revolution und Friede ist!« sagte ich abgehetzt, und wieder gingen wir zur Residenz. Dort trafen wir den Holländer und Marietta. Die Neugier hatte sie hierhergetrieben.
»Jetzt ist's aus mit dieser schönen Herrlichkeit!« sagte ich mit versteckter Schadenfreude. Auf den reichen Mann war's gemünzt. Der verstand es nicht.
»Ja, fabelhaft«, sagte Marietta nur immerzu. Erst tiefnachts machten wir uns auf den Heimweg. Nachdem das Fräulein gegangen war, ging ich mit dem Holländer. Bei ihm tranken wir die ganze Nacht. Als ich beim Morgengrauen nach Hause torkelte, waren die Straßen Schwabings leer und still. Da und dort schoß es in der Ferne. Die Stadt schlief. Die Revolution schien zu rasten. Der mächtige graue Himmel hing ruhig über den Häusern.
»Bewegung! Krach! Krach! Krach! Be-wee-egung!« bellte ich auf einmal sinnlos in die Stille, wankte, rülpste und ging wieder weiter. Auf meinem Atelier angekommen, setzte ich mich hin und schrieb an Selma: »Ich mag Dich nicht mehr! Ich hab' Dich nie mögen! Es war alles bloß gelegenes Mitleid! Laß mich allein! Geht jeder seinen eigenen Weg!« Alles war aufgebrochen, alles war anders geworden, nun mußte es auch bei mir anders werden!
Ich schnellte plötzlich erschrocken über diesen wahnwitzigen Gedanken auf und zerriß den Bogen. Brummig legte ich mich ins Bett.
Am andern Tag klebten die Litfaßsäulen voll von Erlassen der neuen Regierung. In der Stadt war es ruhig. Lastautos mit Bewaffneten fuhren herum, Maschinengewehre standen vor den öffentlichen Gebäuden, Militärpatrouillen sah man. Sogar von den Frauentürmen herunter wehte die rote Fahne.
An den Bäckerläden standen lange Ketten. Alles kaufte panikartig Brot ein. Die heißen, dampfenden Wecken festumklammert, liefen die Leute davon, fast so wie Diebe.
Im Landtag hielt der Arbeiter- und Soldatenrat unter Eisners Leitung seine erste Sitzung ab und wählte die provisorische Regierung des Freistaates Bayern. An der Spitze der Abendausgabe der M ünchner Neuesten Nachrichten stand groß der Bericht über die Abdankung des deutschen Kaisers und den Thronverzicht des Kronprinzen. »Der Reichskanzler: Max, Prinz von Baden«, war noch darunter zu lesen.
Die Kunde ging um, der König von Bayern sei in Leutstetten gefangengenommen worden, und jemand sagte: »Und glei werd er derschossen!« Erst einige Stunden später erfuhr man, daß Ludwig III. mit Familie per Automobil nach Schloß Wildenwart übergesiedelt sei und abgedankt habe.
Ein alter Mann las die Zeitung auf der Straße, wurde blaß und sagte jammervoll laut: »Entsetzlich! Entsetzlich - Wir sind vernichtet!« Er wankte wie in einer Ohnmacht.
»Was denn?« fragten Herumstehende. Er reichte die Zeitung einem jüngeren, nebenstehenden Mann, und der las laut die Waffenstillstandsbedingungen vor. Alles verstummte und bekam benommene Gesichter. Ein Arbeiter mit hungerschmalem Gesicht und in zerfranster Militäruniform rief jäh in die Leute: »Das ist die Rache für Brest-Litowsk!« Er ging weiter. Keiner sagte etwas darauf. Neugierig und fröhlich tummelten sich die Leute auf den samstäglichen Straßen.
XIX
VERWIRRUNG
Die Tage verflogen wie zersprengte Minuten. Im Krankenhaus war ich gewesen. Selma ging es sehr schlecht. Abgemagert, totenblaß lag sie da, mit unruhigen Augen. Ihre keuchende Brust ging auf und ab. Alle Mitkranken schauten auf sie wie auf eine bald Sterbende. »Da, heut' nacht hab' ich lauter Zettel geschrieben, weil ich gemeint hab', ich stirb' ... Um vier Uhr in der Frühe wollten sie mich in die Kammer hinausführen, wo alle drinnen sterben ... Da, les', es war schrecklich«, sagte sie schweratmend. Ich blätterte die bleistiftbeschriebenen Zettel durch. Auf einem stand: »Lieber Oskar, mach Dir keinen Kummer, wenn ich sterbe. Heirate das Fräulein.« Mir gab es einen Stich. Ein anderer Zettel lautete: »Alles Glück ist kurz, schau, daß das Kind ein freier Mensch wird.«
Ich faßte mich und schaute dumm drein. Selma lächelte und hielt meine Hand. »Ach, Unsinn! Das geht schon vorüber«,
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