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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Schlage gerieten die johlenden Massen ins Vorwärtsdrängen. Wie eine kribbelige, schwarze Welle wälzten sich die tausend und aber tausend Menschen hangaufwärts auf die Straße; weiter ging es im Schnellschritt, an geschlossenen Häusern und herabgezogenen Rolläden vorbei, den Kasernen zu. Wir marschierten, eingekeilt von einer dahinstürmenden Menge, fast ganz an der Spitze, kaum fünf Schritt weit entfernt von Eisner, den ich unablässig betrachtete. Er war blaß und schaute todernst drein; nichts redete er. Fast sah es aus, als hätte ihn das jähe Ereignis selber überfallen. Ab und zu starrte er gerade vor sich hin, halb ängstlich und halb verstört. Arm in Arm mit dem breitschulterigen, wuchtig ausschreitenden blinden Bauernführer Gandorfer ging er. Diese Gestalt bewegte sich viel freier, derb auftretend, fest, und so eben wie ein bayrischer Bauer dahingeht. Um die beiden herum war der Stoßtrupp der Getreuesten. Der Marsch hatte begonnen und war unaufhaltsam. Keine Gegenwehr kam. Alle Schutzleute waren wie verschwunden. Aus den vielen offenen Fenstern der Häuser schauten neugierige Menschen auf uns herunter. Überall gesellten sich neue Trupps zu uns, nun auch schon einige Bewaffnete. Die meisten Menschen lachten und schwatzten, als ging's zu einem Fest. Hin und wieder drehte ich mich um und schaute nach rückwärts. Die ganze Stadt schien zu marschieren. Wir erfuhren auch schon, daß Matrosen die Residenz genommen hatten. »Da, da! Geht's schneller! Da geht's los!« schrie wer hinter uns und alles fing zu laufen an. Ein wüstes Gedränge entstand. In die aufgerissene Tür der Guldeinschule stürmten wir. Auf einmal standen wir festgestaut in einem dunklen Gang.
    »Halt!« brüllte wer. »Ha-a-alt!« wiederholte sich brüchig und ging unter.
    »Da, Hund!« plärrte es vorne, und ein ungeheurer Tumult entstand. Ich stemmte mich mit beiden Ellenbogen und wollte weiter. Aber schon schoben sich die Vorderen wieder zurück und drückten uns auf die Straße. Jäh knallte ein Schuß und riß für eine Sekunde eine Stille auf, die gleich wieder im Geheul und Schrittgemeng unterging. Wie auf ein Signal stürmten jetzt die Rotten in den Gang, auch Bewaffnete sah ich jetzt. Durcheinandergerede, Schreie, und plötzlich riß einer oben das Fenster auf, schwenkte eine rote Fahne heraus und schrie: »Die Mannschaft hat sich für die Revolution erklärt! Alles ist übergegangen! Weitergehen, marsch, marsch! Weiter!«
    »Bravo! Hoch! Hoch die Revolution!« johlten alle auf der Straße, und aus der Guldeinschule kamen Soldaten mit und ohne Gewehr, an den Läufen rote Sacktücher. Im Sturmschritt bewegte sich der Zug durch die Stadt. Da und dort zweigten Trupps mit bewaffneten Soldaten ab und verschwanden in einem Haus. Beim Übergang, an der Donnersbergerbrücke, geriet zum erstenmal ein Zahlmeister in Uniform in die Menge. Die Epauletten wurden ihm heruntergerissen, einige zerrten ihn hin und her. Der Mann begann zu weinen und hob bittend die Hände. Der Hüne wollte über ihn herfallen, ich stieß alle weg und hielt ihn auf.
    »Laß ihn laufen! Der kann auch nichts dafür!« brüllte ich aus Leibeskräften. Der Hüne glotzte erst erstaunt und nahm eine drohende Haltung gegen mich ein. Andere gesellten sich zu ihm. »Geh, Mensch!« schrie ich dem verdatterten Zahlmeister zu. Er war aber so verwirrt, daß er stehen blieb.
    »Bürscherl!« knurrte der Hüne mich an und packte meinen Arm. Seine Augen funkelten. Da schrie wer ganz in der Nähe: »Rauft's nicht! Das ist der Graf! Weitergehn!« Und als ich aufsah, stand ein Syndikalist zwischen mir und dem Hünen, schimpfte wie ein Rohrspatz, und der Zwischenfall war vorüber.
    »I hätt glei gor gmoant, du bist oana vo dö andern!« lachte der Hüne und schlug mir fest auf die Schultern: »Nana, du host scho recht ... Dö Klona konn ma ruahi laafa lossn! Nix für unguat, Kamerad!« Wir faßten einander gemütlich unter und marschierten weiter. Der Zahlmeister war verschwunden.
    »Aba, woaßt ös, gor a so menschli derf ma net sei!« sagte mein Begleiter manchmal.
    Die meisten Kasernen übergaben sich kampflos. Es kam auch schon ein wenig System in dieses Erobern: Eine Abordnung stürmte hinein, die Masse wartete. In wenigen Minuten hing bei irgendeinem Fenster eine rote Fahne heraus, und ein mächtiger Jubel erscholl, wenn die Abordnung zurückkam.
    Jetzt zerteilte sich der Zug auch, eine Menge zog dahin, die andere dorthin. »In der Max-II-Kaserne wollen sie schießen«,

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