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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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strahlen! Jetzt mußte etwas in mir zu brennen anfangen!
    Wir schritten in die Betstühle zurück. Meine Glieder bewegten sich genau wie vorher. Ich schwebte nicht. Ich sah alles genauso, fühlte alles genauso, wie ich es immer gesehen und gefühlt hatte. Es hatte sich nicht geändert! Nichts, gar nichts!! Der Pfarrer hatte gelogen! Gelogen!
    Es gab keinen Gott in einer Hostie. Es gab überhaupt keinen! Es war alles Lüge! Lüge! Lüge! Lüge!
    Es gab keinen Blitzschlag aus heiterem Himmel, keine Hölle! Meine Angst, mein Beten, mein Weinen - alles, alles war umsonst gewesen! Es gab keinen Gott, keine Ruhe, kein Wunder, keine Verklärung! Es gab gar nichts! - Gar nichts!

    *

    Niemand ist einsamer als ein werdender Mensch mit unvorbereitetem Herzen. Niemand wartet mehr auf das Wunder und auf die Liebe als er!
    Knapp siebzehn Jahre war ich alt. Shakespeare und Schopenhauer, Tolstoj und Stirner, Heine und Strindberg,
    Nietzsche und Maupassant, Balzac und Wedekind, Ibsen, Zola und Flaubert hatte ich gelesen, Schiller und Grabbe, Bakunin und Herzen - Bücher und Bücher.
    Ganze lange Stellen daraus kannte ich auswendig, zitierte sie oft, liebte sie, wurde bis zum Weinen bewegt durch sie und berauschte mich daran. Und sagte die Worte fast wie ein wohltuendes Gebet und kannte sie nicht.
    Durch die nächtlichen Straßen der Stadt lief ich voll Ungewisser Unruhe. Immer und immer wieder drängte sich dieses eine dumpfe, quälende Gefühl zwischen meine verworrenen Gedanken: Du gehörst zu niemandem und niemand gehört zu dir! Du bist allein und ganz überflüssig.
    Unlust und Mißmut kamen und wurden so groß, so zersetzend, so schrecklich, daß ich schier vor meiner eigenen Jämmerlichkeit zu fliehen versuchte. Ab und zu schaute ich fast bittend auf die vorübergehenden Menschen, erschrak jäh, blickte hastig weg, wie einer, der Angst hat, das Verborgenste in sich zu verraten, ging schneller, ziellos weiter, eine Straße lang und wieder zurück, um ein Häusergeviert und wieder zurück, fing den Gang abermals von vorne an und mußte zuletzt wirklich kaum noch, wo ich war, stand, weshalb ich ging und überhaupt auf der Welt war.
    »Komm mit!« sagte auf einmal eine Prostituierte zu mir. Zum erstenmal in meinem ganzen Leben.
    Ich glotzte sie an, alles an mir stockte, dann flogen und flammten meine Glieder.
    Sie lächelte alt, nickte und ich ging mit ihr. Wir kamen auf ihr Zimmer. Sie knipste das Licht an. Ich wankte, fiel um sie, umklammerte sie wild, wollte sie küssen und lieben, wie nur ein junger Mensch erstmalig liebt.
    »Au! Geh weg! Du zerreißt mir ja die Bluse! ... Langsam! ... Nur nicht gleich so stürmisch!« wehrte sie ab und verlangte Geld. Ich ließ sie aus, meine Arme, mein ganzer Körper wurden wie lahm. Dumm und stocksteif blieb ich stehen und ließ mit mir geschehen. Sie nahm sich selber das Geld aus der Börse, entkleidete sich sachlich und legte sich hin. Es verschwamm alles, es versank. Wie ein Hitzklumpen fiel ich auf ihren kalten Leib. Nichts hörte ich mehr, als ihr heiseres, häßliches Kichern.
    Langsam, ganz langsam kehrte alles wieder. Die grüne Tapete, das gelbe Licht, der Diwan und das breit auseinandergeflossene, fleischige Gesicht. Ich richtete mich auf und blieb todtraurig neben ihr sitzen. Ich wollte lächeln, aber mein Gesicht schien gefroren, ich wollte reden und begann zu schlottern. Ich warf meinen heißen Kopf in ihre Brust und verschluckte das Weinen. Ich fing auf einmal an, mein Leben zu erzählen, stammelte, brach ab und umspannte noch hilfloser ihren Körper. Die Tränen brachen furchtbar aus mir. »Nimm alles! Tu alles mit mir! Du! Du! Ich hab' dich so gern! Du! Du! Ich möcht' dich heiraten! Ich muß dich haben! Du! Du! Ich arbeit', ich mach' alles! Du! Du! Ich kann nicht mehr anders! Du! Du! Du hast es gut bei mir! Du! Du!« heulte ich in sie hinein, brüllte, schluchzte. Es war, als zerginge ich langsam.
    Sie erzitterte erschrocken, löste sich hastig los und stand auf. Ängstlich und ärgerlich sah sie mich an, murrte und brummte. Rasch warf sie ihre Kleider über, zog mich hoch, half mir ins Jackett und brachte mich eilig auf die Straße.
    »Sei doch still, Kerl! Sei still, sag' ich! Still! ... Da, da grad' aus! Geh nur! Geh! Geh bloß weiter!« waren ihre letzten Worte und entsetzt lief sie davon.
    Finster war es rundherum. Drohend ragten die massigen Hauswände in den dunklen Himmel. Ich tappte weiter. Weiter in eine grausige Verlassenheit hinein. Die blieb und

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