Wir sind Gefangene
entlassen«, teilte er mir in der Gefängnistüre mit, »hinten draußen erwartet Sie jemand.«
Das Blut stockte einen Augenblick, ich starrte den Mann wie entgeistert an. Er schob mich ins Freie. Das Fräulein stand auf der Straße. Wir umarmten uns wie vom Ertrinken Gerettete. »Nie, nie vergessen!« stammelte ich. Wir gingen weiter.
EPILOG
Zehn Jahre war ich alt, als einer in mein Leben trat, erzogen von Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren, und meine Erziehung in die Hand nahm. Zehn Jahre, als einer zu befehlen begann, mich anschrie, prügelte und immer noch mehr prügelte.
Zehn Jahre war ich alt, als ich anfing zu wissen, was Zwang ist, und anfing, ihn zu hassen, sinnlos zu hassen. Zehn Jahre war ich alt und ging in die fünfte Klasse der Volksschule, als wir nach bestandener erster Beichte für die Kommunion vorbereitet wurden. Der Pfarrer, der uns unterrichtete, erzählte uns von der ungeheuren Wandlung, die uns der Empfang des Leibes Gottes bringen würde. Er beschrieb durch viele Beispiele die Qualen der unwürdig Empfangenden, der »Gottesräuber«.
Es gab da plötzliche Blitzschläge aus heiterem Himmel auf solche Sünder, lebenlängliches Unglück, Kranksein, Ruhelosigkeit, Lähmungen. Das nagende Gewissen trieb die Gottesräuber in die Welt hinaus, ließ sie Verbrechen begehen. Sie endeten nicht selten im Zuchthaus, und nach dem Tode winkte die ewige Qual, die Hölle. Und auf der Seite der Büßenden, der Reinen, war Ruhe, Glück, waren Wunder und Verklärungen. Ich lauschte begierig. Ich lernte. Ich hütete mich vor jeder Sünde, lebte in einer ständigen, gespannten Angst, etwas erleben zu müssen, wodurch meine Seele Schaden empfinge. Ich schlief oft bis tief in die Nacht hinein nicht und lispelte in einem fort Gebete. Ich redete einfältig mit Gott. Ich spülte nach jeder Mahlzeit meinen Mund aus, putzte fanatisch die Zähne. Nicht nur in eine reine Seele sollte Gott Einzug halten, auch in einen reinen Magen. Ich vergaß oft alles, bekam Prügel vom Lehrer und zu Hause. Ich hatte Angst, Angst, Angst!
Wenn ich allein war, überfiel mich eine irre Verzückung, eine besinnungslose Freude, wenn ich mir ausmalte, wie ich sei, wenn der Herr in mich gekommen wäre. Ich spürte keine Prügel, alles um mich war verloschen. Ich hatte ein Gefühl, als sei alles schwebende Unwirklichkeit um mich.
Doch dann kam wieder die Angst, die furchtbare Angst vor der plötzlichen Versündigung und auf einmal - ein bohrendes Mißtrauen, ein Grauen vor allen Menschen.
Meine Mutter war sehr fromm. Sie hatte oft und oft Gott empfangen und war unverändert geblieben. Meine Geschwister waren leichtzüngig, hatten viele Male Gott empfangen, aber man sah ihnen nichts an. Alle Dorfleute waren fromm oder sündhaft, aber alle, alle hatten Gott geschluckt, oft und oft, und nichts an ihnen zeugte von einer Wandlung.
Mein Vater fluchte, daß oft das ganze Haus bebte, trank, fuhr jedes Jahr in einen berühmten Wallfahrtsort und empfing nach der Beichte den Leib des Herrn - betrank sich hernach in irgendeinem Bräu und fluchte am andern Tag genauso wie vorher, lästerte Gott. Nichts hatte ihn geändert. Alle Menschen nahmen Gott und wieder Gott in sich auf und keinen erfaßte die Verklärung, keiner hatte sich geändert. Alle blieben gleich, vollkommen gleich! Ich wurde irr.
Was war das? Das! Das , daß alle gleich blieben nach dem Empfang der Hostie, daß man keinem etwas ansah?
Das , daß Gott keine Spuren an den Empfangenden zeigte? Ich sah meinen Vater an, meine Mutter, meine Geschwister, die Dorfleute, alle, alle. Und auf einmal packte mich das Entsetzen. Alle waren Gottesräuber! Allen lauerte der Teufel auf. Alle waren der Hölle verschrieben. Alle mußten ewig, ewig, ewig brennen, leiden, brennen, leiden!!
Ich weinte oft tief in der Dunkelheit. Ich hatte Angstträume. Ich versteckte mich im Heu, wenn mein Vater fluchte, und mein Herz stand oft jäh still, denn jeden Augenblick konnte, mußte ein Blitz aus heiterem Himmel niederstürzen. Konnte, mußte mein Vater für immer tot umfallen. Konnte! Mußte!!
Ich versteckte mich, ließ rufen und rufen und gab nicht an. Ich aß nichts mehr. Ich schlief kaum noch. Ich schrie plötzlich in der Nacht laut auf und fühlte mich nur geborgen beim Religionsunterricht in der Schule. Dann kam die heilige Handlung.
Ich weiß nicht mehr, wie ich mich verhielt. Ich fühlte eine Oblate auf meiner Zunge und schluckte sie hinunter. Und riß die Augen weit auf. Jetzt mußte ich
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