Wir sind Gefangene
Als ich auf das Zimmer kam und Tinte und Feder auf dem Tisch sah, befiel mich plötzlich der Drang, an einen Menschen zu schreiben. Fast besinnungslos nahm ich aus meiner Brusttasche einen letzten Rest Briefpapier. Alle Müdigkeit war fort. Die Feder flog. Gehackt waren die Sätze, regellos, geschleudert. Als ich zu Ende war, überflog ich die Blätter, las einmal - zweimal dreimal und begann zu weinen. Übermannt von Müdigkeit legte ich mich unausgekleidet aufs Bett und versuchte zu schlafen, schloß die Augen fest, fast gewaltsam. Aber es ging nicht. Ich zitterte, fröstelte, zuckte.
Ich erhob mich abermals, zündete Licht an, nahm die Feder in die Hand und begann zu schreiben. Auf einmal war mir etwas unwirklich klar. Eine seltsame Ruhe überfiel mich. Meine Glieder schmerzten. Die Augen brannten. Ich schrieb.
Das Ende brach zusammen hinter mir.
Anfang hat morgenfrisch die Tore aufgetan.
Der Boden unter meinen Füßen klingt,
und hoffend straffen sich die Schritte.
Noch einmal aber raste ich, um ins Vergangne auszuschauen, und sehe Brüder aus dem Nebel näher kommen,
auf gleichem Weg und gleichgebeugt von Last und Prüfung.
Auf ihre Stirnen hat das Tägliche und alle stumme Not
der Zeit
ein helles »Doch!« geschrieben.
Wir sehen uns nur an
und schreiten weiter, Mann für Mann.
Denn jenes Ewige, das Gott so züchtigt, weil er es unendlich liebt,
ist tief in unserm Blut geblieben
und strahlt uns wie ein Gnadenlicht voran.
*
Über ein Lächeln hinweg schickte ich an das Fräulein diesen Gruß: »Ich liebe Dich! Ich liebe Dich unendlich! Ich komme wieder zurück sobald als möglich. Wunder und Rettung, Glaube und Hoffnung sind hereingebrochen. Ich liebe Dich! Ich liebe Dich unendlich ...«
NACHWORT von Walter Jens
»Wir mußten schwer arbeiten. Ich wurde abends (im Winter um 11 Uhr, im Sommer um 9 Uhr) vom Gesellen geweckt. Die ganze Nacht ging es. Um 6 Uhr früh zählte mir Mutter das Brot in den Korb, legte Wecken obenauf ... und hinaus ging es in die frische Morgenluft ... Ich mußte in der Konditorei mithelfen. Schneeschlagen ..., Sandtorte einrühren, Mürbeteig kneten. Um fünf Uhr abends konnte ich schlafen gehen. Das war der normale Taglauf, Oster-, Pfingst- und Weihnachtszeit wurde es oft viel später. Nebenbei galt es Holz zu spalten oder Häcksel zu schneiden. Und immer dieses peitschende, drohende: >Los, los! Marsch, marsch!< «:
An der Kindheitsbeschreibung Oskar Maria Grafs gemessen nimmt sich selbst eine so grauenerregende Autobiographie wie der »Anton Reiser«, mit seiner Darstellung eines kindlichen Martyriums im achtzehnten Jahrhundert, nahezu idyllisch aus - und was die poetischen Reminiszenzen aus unserem Jahrhundert angeht, von Hermann Hesses »Unterm Rad« bis zu Walter Benjamins »Berliner Kindheit«, so erscheinen sie, mit Grafs Plebejer-Bericht verglichen, wie ein Märchen aus einer anderen Welt: Da gibt es Gärten, in denen ein Pavillon steht; da tragen die Eltern Orden und Schmuck; da lernen die Kinder lateinisch und auf dem Stundenplan steht in einer Rubrik das Wort »Geigenspiel«.
Und dagegen nun die Grafschen Memoiren, deren erster Teil, »Frühzeit«, 1922 im Malik-Verlag unter der Ägide Wieland Herzfeldes erschien - dagegen die Beschreibung eines Zwanzigstundentags mit Frondienst, Schlägen und sadistischer Quälerei. (»Zehn Jahre war ich alt... als einer zu befehlen begann, mich anschrie, prügelte und immer noch mehr prügelte.«) In der Tat, hier wird die bäuerlichplebejische Welt der Kaiserzeit gezeigt, wie sie in Wirklichkeit war: eine Anti-Idylle, geprägt von Armut, Mißgunst und Rückständigkeit.
Wer nach Darstellungen sucht, die mit vergleichbarer Schärfe die Lebensweise des vierten Standes erhellen, präzis und parteiisch zugleich, muß den Bereich der sogenannten hohen Literatur verlassen und sich der Zeugnisse der Arbeiterautobiographien versichern. Grafs Vorgänger hießen nicht Rousseau, Bräker und Moritz; sie tragen bescheidenere Namen: Carl Fischer (»Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters«, 1903), Franz Rehbein (»Das Leben eines Landarbeiters«, 1911) oder Adelheid Popp (»Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin von ihr selbst erzählt«, 1909).
»Die meisten Menschen, wenn sie unter normalen Verhältnissen herangewachsen sind, denken ... mit Dankbarkeit und Rührung an die schöne glückliche sorgenlose Jugendzeit zurück und seufzen wohl auch verlangend: Wenn es nur noch einmal so würde! Ich stehe den Erinnerungen an meine
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