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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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blieb.

    *

    Wunder waren gestorben. Glaube und Liebe waren zu nichts geworden. Hoffnung schien Unsinn.
    Zur Verlassenheit gesellten sich das Mißtrauen gegen jede innere Regung, die Feindschaft gegen die Welt und der furchtsame Haß gegen alle Menschen. Klugheit und List dünkten mir die einzigen Waffen, sich gegen alle Anstürme zu wehren. Winzig klein wurde mein Kreis und hieß nur noch: Ich. Ganz plump: Ich.
    Schwätzer und Besessene versuchten mich zu ändern. Ich ließ mich scheinbar belehren, heuchelte Freundschaft, machte mir ihre überzeugendsten Redewendungen und Gedankenkniffe zunutze und blieb der gleiche.
    Ideen und Ereignisse drangen heran. Ich verschloß mich ihnen nicht, o nein! Ich fand sie unterhaltlich und belächelte sie tief zu innerst ungläubig. Das letzte hieß ja doch immer nur: Wehre dich! Wehre dich, sonst wirst du zerstampft! Friß oder werde gefressen! Der Krieg kam und war mir nichts als eine einzige Narretei. Dieser galt es so schnell wie möglich auszuweichen. Sie geschah für irgendwen, und ich wollte nur für mich geschehen.

    *

    Es war 1917. Mit beharrlichster List hatte ich mich vom Militär befreit. Ich war wieder in der Stadt. Wieder rann das Leben. Nichts hatte sich geändert. Die Fabrikarbeit, die Arbeiter, der Meister, die Logisfrau, Scheinheiligkeit, Speichelleckerei, Muckertum, Mißtrauen aller gegen alle und Berechnung auf eigenen Vorteil alles war gleich geblieben. Und ich? Weshalb war ich frei?
    Nein! Tausendmal nein!
    Hatte ich wenigstens etwas gewonnen? Hatte ich wem genützt durch mein Tun? Wirkte ich als irgendein Beispiel?
Nein! Tausendmal nein!
    Also wieder nur die Leere. Also wieder nur das plumpe Ich. Ein Ekel stieg auf in mir. Ein noch größerer Haß gegen mich und alles Leben um mich.
    Ich schritt dumpf durch die Straßen. Es lachte jemand. Jäh zuckte es auf in mir: Jetzt aufspringen! Sich auf einen Menschen stürzen, ihn niedermachen! Viele, viele Menschen niedermachen, erwürgen! Und dann wieder eingesperrt werden, ins Irrenhaus oder ins Zuchthaus. Ganz gleich wo! Nur noch Alleiniger sein, ganz allein! Verzweifelt, ruhelos ging ich in meinem Zimmer auf und ab. Auf und ab. Die ganze Nacht. »Was bin ich?« »Was will ich?« »Wem nütze ich?«
    Immerzu, immerzu. Und ebensooft: »Nichts! Nichts! Niemandem!« Verbissen und irr.
    Und plötzlich: »Und bin doch! Will doch! Nütze, nütze, nütze -
nütze? - Wem? Wem !?«
» Wem « stand auf, übermächtig.
    Der Tag fiel grau durch das Fenster. Ich packte meinen Koffer, schrieb einen Brief an den Bäckermeister und wollte fliehen. Aber zu was, wohin und vor wem denn?
    Ich zerriß den Brief, machte mich fertig und ging wieder zur Arbeit. Die ewige Gleichmäßigkeit des Weiterlebens floß über alles hin. Ich las wieder Bücher, ich versuchte es mit den Frauen, ich heiratete, ich vermischte mich mit allen möglichen Menschen, ich tobte und trank mit ihnen Tag und Nacht, ich galt als originell und bestärkte mich verschwiegener Eitelkeit und gewiegtem Instinkt diese Ansicht über mich - aber ich war nicht weniger verlassen. Ich fing zu schreiben an. »Mensch«, notierte ich mir einmal, »das ist seit Anbeginn das Stieselhafteste und Unsinnigste, was es gibt. Jedes Tier, jede Pflanze, der Regentropfen selbst ist vernünftiger, froher und freier. Für all dieses gibt es nur ein Sein und damit ist's genug. Wir aber bilden uns mehr ein, und das ist unser ganzes Trauerspiel.« Leben wollte ich, leben! Sein wollte ich, nur sein, sonst nichts.

    *

    Es war kurz nach der Erschießung Levinés. Ich ging durch den Englischen Garten. Ein Arbeiter, der mit mir auf Zelle 13 gewesen war, traf mich. Wir schauten uns in die Augen, vorsichtig und fast mißtrauisch. Er nickte kurz grüßend und wollte weiter.
    »Kamerad, wir kennen uns«, sagte ich. Er hielt zögernd inne, maß mich abermals scheu und lächelte schwermütig. Jetzt schien ihm wieder alles einzufallen.
    »Ja, Jesus, ja«, sagte er und ging mit mir. Wir spazierten einsilbig durch die vielen bummelnden Leute, bogen in einen dunklen, verlassenen Weg ein und setzten uns nach einer Weile auf eine Bank. Er redete erst ganz gleichgültige Worte und lugte immerfort forschend herum, alls befürchte er unsichtbare Lauscher. Es wurde still und stiller. Der Park schien leer, in den Zweigen schüttelte sich ab und zu ein schlafender Vogel, und von der fernen Stadt herüber drang mitunter das Surren der Straßenbahnen. Er holte Atem, beugte sich näher zu mir und faßte mich am

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