Wir sind Gefangene
hockte da und versuchte mit aller erdenklichen Vorsicht die Stiefel von meinen geschwollenen Füßen herunterzuziehen, knöpfte einen Knopf von der Weste auf und riß schließlich meine Kleider herunter, warf mich aufs Bett und schlief, schlief, schlief!
Grob war ich während der Arbeit. Man wich mir aus und ließ mich in Frieden. Jeder haßte mich, jeden haßte ich. Wie eine Maschine arbeitete ich. So etwas belästigt man nicht, läßt es einfach laufen. Die Frau des Bäckermeisters, die einmal in den Keller kam, schrie ich an. Ich kannte sie nicht. Sie hatte eine blendend weiße Zierschürze an und duftete. »Geh weg, damisches Vieh!« brüllte ich und sie verschwand entsetzt. Alles stockte, machte lange Gesichter. Der Meister kam und stellte mich zur Rede. »Ja! Ja-ja!« stieß ich abgehackt heraus und machte ein verknurrtes Gesicht. Der Meister sagte nichts mehr und ging. »Mensch!« brummte mich der Obergeselle an, »das geht doch nicht!« Ich sah ihn haßerfüllt und zu allem entschlossen in die Augen und rief herausfordernd: »Was denn? Was denn! Wer mir im Weg ist, muß weg!« Der Mann lächelte maliziös und zog kopfschüttelnd ab.
Alle krochen hier, alle waren katholisch organisiert, jeder war scheinheilig und fing zu rennen an, wenn der Meister kam. Es sah fast aus, als belauere jeder seinen Nebenmann, um ihm eins auswischen zu können. Nur die Packerinnen, die manchmal herunterkamen, waren dreist und stahlen wie die Raben. Es war wenig Kontrolle. Nur der alte Vater des Bäckermeisters, ein verhutzelter, griesgrämiger Graukopf, schlüpfte ab und zu herum und beobachtete mißtrauisch. Vor ihm mußte man sich in acht nehmen. Er griff sogar heimlich im Baderaum die Kleider aus, um festzustellen, wer am meisten stahl. Aber dagegen gab es tausend Kniffe, die man schnell lernte. Überhaupt gewöhnte ich mich mit der Zeit mehr an den Betrieb. Den ganzen Tag fraß ich Lebkuchen und Keks und trank Trockenmilch. In mein Jackettfutter oberhalb der Brusttasche schnitt ich Löcher und füllte sie stets vor dem Nachhausegehen mit Gebäck, mit Zucker und Mehl. In meinem Zimmer stand ein breiter, zweitüriger Schrank, der unten eine geräumige, verschließbare Schublade hatte. Diese füllte ich nach und nach vollständig. Sorgfältig schichtete ich die gestohlenen Kekse und Lebkuchen hinein.
Eines Tages wirfst du ja doch den ganzen Mist von Arbeit hin, dann hast du wenigstens noch für einige Zeit zu essen, überlegte ich. Spare in der Zeit, so hast du in der Not.
Ich wollte möglichst viel ergattern und mich in einem Berg von Eßbarem einmauern, etwas Geld sparen und dann rasten. Geldsparen aber ging sehr langsam. Der Wochenlohn war hin, eh ich mich versah. Kohlen, Holz, dies und das, jeden Tag zwei Portionen Essen im »Katholischen Gesellenhaus« - schon fingen wieder die Schulden an. Und es war der dritte Kriegswinter. Nichts gab es fast mehr. Zum Anstehen an den Läden war keine Zeit. Der kluge Mann also - sagte ich mir - baut vor.
Ich lebte eigentlich völlig allein. Hobrecker besuchte mich einige Male abends, erging sich auf echt rheinländische Art in großen Sprüchen, erzählte, wo man gut esse und wollte zu guter Letzt immer wieder Geld geliehen haben. Eines Tages schlug ich ihm ohne rechten Grund, rein aus Ungeduld, eine saftige Ohrfeige ins Gesicht und fing zu brüllen an, daß er sofort verschwand. Die herbeigeeilten Logisleute beruhigte ich, es sei ein Taugenichts, der arg aufdringlich geworden wäre, sie sollten ihn nicht mehr hereinlassen.
Nanndl besuchte mich einmal und dann noch ein zweites Mal. Eine Geschäftskollegin von ihr war dabei, die ich erstmalig in der Pflegeanstalt Haar kennengelernt hatte, damals als meine Geschwister mich besuchten. Sie hieß Luise, war schlank, blond und hatte ein keckes, sommersprossiges Gesicht. Während damals, beim Besuch, alle weinten, lachte sie. Das gefiel mir. Später, nachdem ich Urlaub bekommen hatte, war auch sie da. Ich verliebte mich redlich in sie und schlief öfters bei ihr. Als ich zur Regelung meiner Militärentlassung wieder nach Haar mußte, war Luise - wie aus den Wolken gefallen - auch da. Sie eröffnete mir, sie sei schwanger. »Gut«, sagte ich, »dann müssen wir heiraten. Ich suche mir eine Stellung als Bäcker und das andere gibt sich.« Luise lachte, fuhr ab, und als ich sie einmal in München wieder traf, widerrief sie die Schwangerschaft und ließ seltsamerweise nichts mehr hören. Dadurch war unsere Liebe eigentlich verebbt.
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