Wir sind Gefangene
saßen wir wieder zusammen, als ob nie etwas zwischen uns gewesen wäre. Erst beim Auseinandergehen lispelte mir Luise unbemerkt ins Ohr: »Komm morgen abend an die Isarbrücke. Um halb acht. Ich warte.« Ich schaute sie fragend an und nickte. Todmüde schleppte ich mich anderntags an den verabredeten Ort. Luise lächelte wieder. Wir faßten einander unter die Arme, gingen in eine Seitengasse. Auf einmal fing sie zu weinen an und legte den Kopf auf meine Schulter.
»Ich bin nämlich wirklich schwanger - aber nicht von dir«, sagte sie und erzählte mir einen kleinen Liebesroman, den sie mit ihrem Chef erlebt hatte. Mit sechzehn Jahren war sie zu ihm in die Lehre gekommen, mit siebzehn hatte er sie verführt und jetzt, mit achtzehn Jahren, trug sie ein Kind im Leib. » Darum ...!« rief ich, und ein Licht ging mir auf.
»Ja, darum wollt' ich dich nicht ins Unglück bringen«, antwortete sie und lief jäh davon.
Ich folgte ihr nicht. Ich blieb stehen, dachte hin, dachte her und machte mich auf den Heimweg. Traurig war ich und wußte nicht warum. Ich erinnerte mich an die paar Nächte, die ich mit Luise verbracht hatte. Irgendeine unbestimmte Unruhe rieselte durch meine Glieder. Ich war nicht mehr müde. Lästig geräuschvoll surrte die Trambahn vorüber und überschüttete mich mit Licht.
»Du hättest sie so leicht wieder mitnehmen können«, murmelte ich halblaut vor mich hin. Ich bog plötzlich in eine andere Seitengasse ein und ging der Stadt zu. Immer schneller schritt ich aus, und als ich an der Müllerstraße angekommen war, sprach ich die erste Prostituierte an und ging mit ihr. Angeekelt und ohne einen roten Heller mehr in der Tasche, verließ ich sie. Unausgeschlafen und verknurrt stürzte ich mich am andern Morgen wieder in die Arbeit. Ab und zu kam mir Luise in den Sinn. Ich glotzte vor mich hin. Sie hatte mir ihre Adresse angegeben. Ich schrieb nie mehr.
Du mußt heraus aus dem Dreck, beschloß ich Tag für Tag, es muß sich was andern. Meine Energie ließ nach. Ich kam manchmal zu spät in die Fabrik. Weihnachten rückte heran. Überstunden machen hieß es. Um neun oft kam ich erst auf meinem Zimmer an. Mein Hirn und mein Körper waren wie ausgewunden. Ich selber war mir feind und zuwider.
Jetzt fingen die Nerven an. Unten am Rückenwirbel begann es jedesmal. Strahlenförmig zerteilte sich der feine, stechende Schmerz, drang aufwärts, über den Kopf, übers Hirn. Wie ein eisernes Band blieb er oberhalb der Augen stehen und drückte wie Bleigewicht. Und von Zeit zu Zeit fing dieses verfluchte Zittern, dieses Fliegen in allen Gliedern an. Und der Magen war wie ausgehöhlt von Mal zu Mal und schien im Leibe herumzuschlenkern wie ein von der Gurgel schwer hinabsinkendes Gewicht. Plötzlich kam es vor, daß ich einen rasenden Hunger hatte, aber wenn ich zu essen anfing, bekam ich eine stinkende Übelkeit. Alles drehte sich. Die Gedärme rumorten unaufhörlich und sehr vernehmbar.
Mitten in Schlamm und Dreck stand ich. Ich war selbst nichts als Dreck. Angst, Ekel, Schauder und Mißmut, Haß und Grauen tobten in mir. Was war denn das?
»Du bist geschlechtskrank! Du bist angesteckt! Du bist verloren!« rang sich immerfort durch mein Hirn.
Ich rannte zum Arzt. Er war ein viereckiger, mürrischer Kauz, dem man die Hämorrhoiden vom Gesicht herunterlesen konnte. Er untersuchte mich oberflächlich und brummte in einem fort unverständliches Zeug in seinen Bart.
»Herr Doktor, ich hab' mit einer Prostituierten geschlafen! ... Ich glaub', ich bin angesteckt!« klagte ich und schnitt eine weinerliche Miene. Der Arzt nahm keine Notiz davon und untersuchte gemächlich meine Geschlechtsteile. »Sind Sie beim Hilfsdienst?« fragte er endlich. Er maß mich verächtlich von oben bis unten. »Nein, ich bin seit einigen Monaten militärfrei ... Ich arbeite in einer Keksfabrik und brauch' keinen Hilfsdienst zu machen«, antwortete ich stockend und fragte wieder:
»Bin ich geschlechtskrank, Herr Doktor?« Wieder ging der Arzt nicht darauf ein.
»Warum hat man Sie denn entlassen?« wollte er wissen.
»Ich bin geisteskrank gewesen.«
Dem Arzt gab es einen gelinden Ruck.
»Wo waren Sie denn zuletzt?« fragte er.
»Im Irrenhaus ... Und nachher ... Ich hab' Stirnhöhleneiterung gehabt ... Der Kopf tut mir auch immer weh, Herr Doktor«, jammerte ich verwirrt.
Der Arzt wurde mit einem Male unruhig. »Soso ... So! ... Hm-hm! ... Jaja, da verschreib ich Ihnen jetzt Menthol! ... Schnupfpulver, verstehn Sie ... Da kriegen Sie
Weitere Kostenlose Bücher