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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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wollte meiner kranken Schwester Emma noch vierhundert Mark schicken - mein Geld war beinahe zu Ende. Das Geld! Das verfluchte Geld, das war an allem Schuld! Das war die Hölle!
    Ich biß die Zähne aufeinander, schluckte. Ich dachte an meine Mutter. Seit ihrem zwanzigsten Jahr stand sie jeden Tag um vier Uhr früh auf, arbeitete, arbeitete schier zum Umfallen und ging abends um zehn Uhr zu Bett. Eine Sechzigerin war sie schon, hatte zwei offene Füße und litt, ohne viel zu klagen. Elf Kinder hatte sie zur Welt gebracht und war fromm, nichts als fromm!
    Ich dachte an meinen Bruder Maurus im Feld, an meine Schwestern. Sie alle lebten doch auch, waren vom gleichen Blut und brachten sich redlich fort?!
    Du bist der größte, der gemeinste Verbrecher! ging es unablässig durch meinen ausgehöhlten Schädel. Ich stand noch immer mitten im Zimmer. Ein unbeschreiblicher Jammer, eine furchtbare Hoffnungslosigkeit befiel mich. Ich machte Licht, ging an das Waschbecken, zog mich trotz der Kälte nackt aus und wusch mich von oben bis unten, immer wieder, immer wieder. Fanatisch. Nach dem Abtrocknen war mir einen Augenblick besser, aber auch nur einen einzigen Augenblick. Dann zerfiel alles wieder.
    Ich stand da, schlotternd, mit blaugefrorenen Gliedern. Es war, als sähe ich meinen Leib langsam abfaulen. Auf den Diwan warf ich mich und weinte.
    Warum hatte mich Minna Sauer nicht genommen? Alles hätte ich getan! Jede hätte ich genommen, jede! Zu Ende war es mit mir! Draußen vor dem Fenster hing der graue Tag. Häßlich war der Himmel. Die Trambahn surrte tief drunten. Ja! - Ja!! Ja, meine Mutter hatte recht gehabt: Man sollte seine Kinder im ersten Bad ertränken oder so wie junge Katzen - einfach in einen Sack - Steine hinein und - ssst! - ins Wasser geworfen!
    Tot wollte ich sein, ganz tot. Ich wußte nicht mehr weiter ...

VI
HEIRATEN UND NICHT VERZWEIFELN...

    Haltlos lungerte ich herum. Leer verrannen die Tage, alles zerfloß sinnlos und dumm. Bis abends schlief ich oft. Alle Überwindung kostete es, zum Arzt zu gehen. Ich hockte in Kaffeehäusern, wanderte durch die Straßen, gab zwecklos Geld aus.
    Niemanden wollte ich sehen. Selbst meine Logisleute waren mir lästig. Widerwillig erwachte ich, widerwillig schlief ich ein. Eines Tages kam Selma Igl zu mir. Schorsch hatte ihr doch meine Adresse von Berlin aus mitgeteilt. Häßlich hager war ihr Gesicht, die Augen herausgedrückt. Asthma hatte sie und atmete in einem fort röchelnd. Sie erkundigte sich, wie es mir ginge und warum ich nie käme. Ich redete mich auf das Kranksein hinaus. Wir tranken Tee und unterhielten uns über Schorsch, über die schlechten Zeiten. Unablässig redete ich, ohne mitzudenken. Nur so, damit die Zeit verstreiche. Ihren Blicken wich ich aus. Schließlich brachte ich sie zur Haltestelle. Sie bewunderte meinen Anzug, mit Respekt sah sie alles, was ich auf dem Leibe trug, an.
    »Wissen Sie, Herr Graf, man hat ja so wenig Menschen, mit denen man reden kann! ... Sie müssen aber jetzt wirklich bald einmal zu mir kommen! Bestimmt!« sagte sie bei der Abfahrt. »Ja«, antwortete ich mechanisch. Nein, dachte ich. Sofort ging ich wieder auf mein Zimmer und legte mich ins Bett. Nur nichts sehen und hören, war mein einziger Wunsch. Da lag ich, sah zum Plafond empor, bis mir die Augen zufielen.
    Schließlich und endlich aber gab es doch wieder nur diesen einen Ausweg: Arbeiten.
    Ich ging zum Arzt und spielte den Kerngesunden. Er nahm den vernickelten Nasentrichter und sah in meine Nase.
    »J-ja-ja, es verheilt ja schon wieder ganz schön«, brümmelte er, »spülen müssen Sie eben noch gut.« Dann schrieb er auf die Krankenkarte »Arbeitsfähig« und entließ mich.
    Nun hieß es, geschickt die Sache bei der Keksfabrik wieder einrenken, denn wenn ich einmal bei einer Arbeit ausgesetzt hatte, war's für mich auch immer schon so gut wie zu Ende damit. Dort wieder anfangen, das kam mir vor, als bitte man um Gnade und Barmherzigkeit. Verraten und verkauft war man sowieso; lieber aber fing ich woanders an, und war's dort auch noch so schlecht. Dreimal schon hatte ich versucht, zur Keksfabrik zu gehen, dreimal kehrte ich immer wieder um. Endlich raffte ich alle meine Entschlußkraft zusammen und suchte den Meister auf. Schon im Laden sah man mich schief an. »So! ... Krank sind's gewesen? ... Was hat Ihnen denn gefehlt?« erkundigte sich die verknöcherte Ladnerin, die schon zwanzig Jahre in dem Geschäft diente. Mit deutlicher Verachtung sah sie mich an.

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