Wir sind Gefangene
schließlich wieder da und schaute zur Decke. Ich schwieg. Ihr Kinn zuckte ein ganz klein wenig. Ihre dunklen, tiefliegenden Augen wurden langsam naß. Fest preßte sie die blutleeren, schmalen Lippen aufeinander.
»Ja - ja«, wiederholte sie nach einer Weile mit der gleichen, wehmütigen Leichtigkeit wie für sich: »Jaja, wirst es schon sehen ... Auf einmal ist's aus mit mir.« Ich war froh, als jetzt Mutter von unten herauf zum Kaffee rief. Schnell stand ich auf.
»Ach was, Unsinn! Du stirbst doch nicht! Du wirst schon wieder gesund!« stieß ich benommen heraus und ging aus der Kammer. Drunten beim Kaffee redeten wir wenig. »Schlecht sieht Emma aus«, sagte ich nur einmal. Theres antwortete nichts darauf, und Mutter machte ein schmerzliches Gesicht. Es wollte kein rechtes Gespräch aufkommen. Ob ich auch manchmal in die Kirche ginge, wollte Mutter wissen und erzählte beiläufig, daß Mord - so hieß die Witwe meines Bruders Max - wieder heiraten möchte.
»Also geht alles in andre Hände über?« fragte ich nebenbei, und »Thja!« seufzte Mutter schwer und wischte sich mit der Schürze die nassen Augen aus. Theres ging wieder in die Schneiderwerkstatt, und Mutter machte das Hühnerfutter zurecht. Ich schaute im Raum herum. Eng, nieder, drückend und ärmlich war hier alles. Ganz anders als in unserm Geburtshaus drunten. Dort war es breit und wohlhäbig gewesen. Hier stand man einander schier im Weg. Ich erhob mich endlich unbehaglich und ging wieder zu Emma hinauf. Mit gewaltsamer Leichtigkeit verabschiedete ich mich von ihr und verließ kurz darauf das Häuschen. Gänzlich traurig und ratlos kam ich in der Stadt an. Nanndl hatte mich gebeten, nach meiner Rückkehr zu ihr zu kommen und über Emma zu berichten. Ich ging nicht hin. Ich fing auch die Arbeit am Montag nicht an.
Alles ließ ich laufen, wie es lief. So fast war es, als habe auf einmal etwas aufgehört, und nichts anderes finge mehr an. Einige Tage verliefen, dann schrieb ich wieder einen Brief an den Bäckermeister und schickte meine Logisfrau hin. Ich hätte mich nun doch gleich zu einer Operation entschlossen, und »Familienverhältnisse halber müßte ich leider die Stelle aufgeben«, er sollte nur gleich Invalidenkarte und Zeugnis mitgeben, schrieb ich. Kaum war die Frau weg, reute mich alles schon wieder. Ich wollte ihr nach, ließ sie aber doch gehen.
Um nur irgend etwas zu tun, ging ich von da ab ständig in die Volksbibliothek, lieh Bücher dort, trug sie nach Hause und gab sie ungelesen wieder zurück. An einem Abend suchte ich Selma Igl auf. Sie war hocherfreut. Ein nettes Zimmer und allerhand Bücher hatte sie. Für Cäsar Flaischlen und Nietzsches Zarathustra schwärmte sie. Warm geheizt war bei ihr und - in jenen Kriegszeiten eine außergewöhnliche Seltenheit - Hackfleisch und Wurst hatte sie. Sie war Buchhalterin in einem Grabsteingeschäft, das damals sehr gut florierte. In ihren Freistunden nahm sie Klavierunterricht und hatte sich auch auf Teilzahlung ein Klavier gekauft. Den ganzen Abend spielte sie mir nun klassische Stücke vor. Ich kannte sie nicht, aber sie sagte es. Ich tat sehr bewundernd, obwohl ich von jeher nicht das geringste Verständnis für Musik hatte. Von da ab trafen wir uns öfter.
Plötzlich einmal kam ein Brief von Schorsch, ich sollte zu Selma gehen und ihr sagen, daß er nun heirate.
»Und wenn Du ein Kerl wärst, könntest Du mir helfen«, hieß ein Satz. Ich ging zu Selma. Auch sie hatte einen Brief und weinte gräßlich. Ich versuchte sie zu trösten. Es half nichts. Sie schluchzte zuletzt. Ich wurde ganz und gar hilflos. Ein völlig fremdes Mitleid überkam mich, als sie immer herzzerreißender jammerte. Tölpisch hockte ich da und dachte in einem fort über den Satz in Schorschs Brief nach. Ich fand mich absolut nicht zurecht damit.
»Jetzt bin ich ganz allein! Ganz allein!« heulte Selma mit einem Male wieder.
»Ja, mein Gott, ja, mein Gott! Allein sind wir doch schließlich alle ... Jeder Mensch ist allein! Das ist halt so! Aber Sie haben doch ein Klavier und Bücher? ... Und - und ich komm' schon auch manchmal«, sagte ich und wollte endlich gehen. Da fing sie von neuem zu schluchzen an. Ich blieb schließlich.
Als ich sie in der Frühe des anderen Tages verließ, hatte ich ihr die Heirat versprochen. So wird er es schon gemeint haben mit seinem Satz, dachte ich mürrisch auf dem ganzen Heimweg.
Dösig setzte ich mich auf meinem Zimmer an den Tisch und schrieb nach Berg um meine
Weitere Kostenlose Bücher