Wir sind Gefangene
so zwecklos vor. Ohne rechtes Ziel tappte ich dahin. Am Stachus stand ich. Plötzlich kam wieder jene seltsame Unruhe über mich. Ich bog in die Sonnenstraße ein, ging weiter bis zur Müllerstraße. Scheu umschritt ich immerzu die Prostituierten, die hier herumpromenierten. Ich wagte keine anzusprechen. Hin und wieder blickte ich auf, wenn sich ein Mädchen näherte. Ein benommenes Prickeln erfaßte mich. Meine Gurgel war wie zugeschnürt. Ein heißes Gesicht bekam ich. Mit der ersten, die mich anredete, ging ich. Es half alles Bedenken nichts.
Alle Entschlußkraft war gewichen.
Tief nachts, als ich heimkam, schrieb ich an Minna Sauer einen langen, sentimentalen Brief: »Sie haben mich unglücklich gemacht, liebes Fräulein! Sie haben mich abgewiesen, und ich weiß nicht mehr, zu was ich lebe«, hieß es da öfter in verschiedenen Variationen. Ich packte ihr Bild in ein Kuvert und schickte am andern Tag den Brief ab. Wieder begann ich, Gedichte zu schreiben. Manuskripte schickte ich an alle möglichen Redaktionen. Nachts schrieb ich, tagsüber schlief ich. Das erweckte bei der Logisfrau den Eindruck, ich sei krank. Spät am Nachmittag endlich stand ich vom Bett auf, machte mich zurecht, trank Tee, aß Keks und Lebkuchen und verschwand. »Zu meiner Schwester«, sagte ich, wenn die Logisfrau mich weggehen sah. In Wirklichkeit aber hatte ich fast Angst, Nanndl zu treffen. Ich lungerte in den Konzert-Kaffeehäusern herum, suchte bedenkliche Animierkneipen auf und ging nach Schluß in die Müllerstraße. Es war eigentümlich - kaum verließ ich ein Lokal, kaum sah ich ein Mädchen auf und ab gehen, da war es auch schon zu Ende mit allem Denken. Mit Angst und Schrecken dachte ich an mein zerrinnendes Geld. Nutzlos. Es half auch nichts, daß ich stets nur einen bestimmten Betrag mitnahm, um ja nicht in Verführung zu kommen. Ich hielt es nicht aus, ich schlich wieder auf mein Zimmer - es mochte noch so spät sein - und holte mehr Geld. Und von neuem begann ich zu wandern. Ich wollte mich müde laufen, ich wollte mich ausfrieren, ich wollte - ja, was wollte ich nicht alles! Der Schweiß brach aus allen meinen Poren, wenn ein Mädchen auftauchte. Es drang etwas vom Magen zur Kehle und blieb stecken. Ich wußte nicht mehr, sollte ich laufen, stehenbleiben oder aufbrüllen.
Mein Geld verflog auf diese Weise nur so. Um billiger wegzukommen, lief ich nunmehr meistens bis zum Morgengrauen herum und ging dann in die Prostituiertengegend. Vereinzelt, zusammengeduckt und zerfroren stapften hier und da noch Dirnen, die während der Nacht zu wenig eingenommen hatten. Sofort schossen sie auf mich zu. Viel weniger verlangten sie für einen Schlafgang, und wenn man weitergehen wollte, nannten sie einen noch niedrigeren Preis.
»Ja - ja! Gehn wir!« brachte ich stets nur heraus, wenn mich eine anhielt. Sie faßte mich am Arm, ich fühlte ihre herausquellenden Hüften und spürte keine Kälte mehr. Alle Müdigkeit war weg. Mein Blut kochte und jagte. Ich wollte schneller gehen. Sie brummte irgend etwas. Ich ging langsamer und dann, wenn wir endlich im dunklen Stiegenhaus angelangt waren, fiel ich über sie her, umklammerte sie und tastete sie ab. Zu schnauben fing ich an und zu plappern. Nur mit aller Mühe brachte sie mich bis in ihre Kammer. Kaum zum Lichtanzünden kam sie. Ich riß ihr die Kleider förmlich vom Körper. Durch die Spitzenwäsche lugte der weiße, schwabblige Leib. Ich krallte mich fest. Alles verschwamm. Furchtbar heiß wurde mir. Ihr Reden, ihr Lachen, ihr Wehren und Schimpfen nützten nichts. Sie konnte ruhig meine Hosentaschen durchsuchen und das ganze Geld herausnehmen. Ich sah es nicht. Wie ein geplatzter Sack brach ich auf sie nieder ... Erst auf der kalten, dämmerigen Straße wachte ich auf. Ich schämte mich vor den Schneeräumern und schlich ängstlich an ihnen vorüber. Den Mantel schlug ich hoch, und wenn kein Mensch mehr zu sehen war, fing ich zu laufen an und landete schweißtriefend auf meinem Zimmer. Ich zündete kein Licht an. Ich wollte mich nicht sehen. Verstört blieb ich stehen.
Einmal hatte ich ein Gedicht geschrieben, da kam folgender Satz vor:
»Mit zwanzig Jahren ist der Mensch entmenscht! Ein Mischling zwischen Kind und Tier.
Und nur das rettet ihn, daß er über sich hinauswünscht
und sich höhersehnt,
wenn er von jenem Licht berührt wird,
das plötzlich durchbricht,
ihn ins Leben und zur Gnade führt...»
Unsinn! Wenn der andere Abend kam, war es ja doch wieder das gleiche! Ich
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