Wir sind verbannt (German Edition)
passieren könnte, bevor es überhaupt anfing!«
Er sah mich an, als hätte ich gerade ein Messer gezogen. »Das war eine Situation, die uns bis dahin so noch nie begegnet war«, erklärte er. »Jeder verantwortungsbewusste Wissenschaftler hätte sich Sorgen gemacht. Aber wir konnten schließlich die Zukunft nicht voraussagen. Ausgehend von dem, was wir wussten, haben wir alles getan, was in unserer Macht lag, Kaelyn.«
»Habt ihr nicht«, erwiderte ich. »Ihr hättet denen im Krankenhaus damals schon sagen können, sie sollen das Gesundheitsministerium zu Hilfe rufen. Vielleicht hätten sie einen Weg gefunden, gegen das Virus vorzugehen, bevor es so schlimm geworden ist. Du hättest letztes Frühjahr dafür sorgen können, dass wir in Toronto bleiben, statt zuzulassen, dass wir wieder hierherziehen. Dann wäre nichts von all dem passiert. Mom und Drew wären gesund, und alles wäre gut!«
Am Ende schrie ich nur noch, und dann versagte meine Stimme, und ich brach in Tränen aus. Dad entgegnete irgendwas, aber ich wollte es nicht hören. Ich lief einfach weg. Knallte die Tür hinter mir zu, marschierte raus zum Auto und legte den Kopf aufs Lenkrad. Und dann flossen die Tränen.
Ich weiß, dass ich nicht ganz fair war. Natürlich hatte das Krankenhaus nicht wegen einem Dutzend Leuten mit Fieber das Gesundheitsministerium alarmiert. Kein Mensch konnte schließlich wissen, wie sich die Krankheit verändern würde. Und wenn wir in Toronto geblieben wären, hätte das für das Virus auch keinen Unterschied gemacht. Rachels Dad wäre trotzdem krank geworden, und Rachel, und alle anderen danach ganz genauso. Nur wäre Dad dann nicht hier gewesen, um zu helfen. Und dann wäre es für die Insel noch schlimmer gekommen.
Für uns hätte es allerdings sehr wohl einen Unterschied gemacht. Mom wäre noch am Leben, und Drew wäre noch bei uns, und wir müssten nicht so leben, wie wir es jetzt tun. Ich könnte in dieser Sekunde durch den Flur spazieren und Drew auf der Tastatur klappern hören und Mom im Bad stehen sehen, während sie dabei ist, sich die Haare für den Tag hochzustecken. Ich müsste nicht jeden Morgen aufwachen und als Erstes daran denken, dass sie nicht mehr da sind, und immer wieder spüren, wie der Schmerz mich mit voller Wucht trifft.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Dad jemals verzeihen kann. Im Moment will ich es noch nicht einmal.
7. Dezember
Weißt du, dass ich noch vor drei Monaten dachte, ich müsste nur einfach mein Verhalten ändern, und schon wäre mein Leben in Ordnung? Dass es all meine Probleme lösen würde, wenn ich mir selbst die Frage stellte: »Was würde die Kaelyn, die ich gerne sein will, jetzt wohl tun?« Wenn ich heute daran denke, würde ich am liebsten laut loslachen.
Was würde mein neues Ich denn jetzt tun? Ich habe die einzige Freundin vergrault, die ich noch hatte, und vielleicht wird sie mir nie ganz verzeihen; ich weiß nicht, ob mein Freund wirklich mein Freund ist, weil wir nie diese normalen Pärchen-Dinge tun können, wie zum Beispiel gemeinsam ausgehen und Unterhaltungen führen, die sich nicht um Krankheit und Hunger drehen; Mom ist tot, und Drew wird vermisst, und die meisten anderen Inselbewohner sind auch tot; wir wissen immer noch nicht, wie wir dieses schreckliche nicht zu stoppende Killervirus heilen sollen – und deshalb tötet es immer weiter, während die auf dem Festland uns einfach aufgegeben haben; außerdem ist eine Gang unterwegs, die Leute totschießt und Häuser in Brand steckt und Sachen stiehlt; und seit heute gibt es nur noch an einer einzigen Zapfsäule an der Tankstelle Sprit, so dass wir bald noch nicht mal mehr unsere Autos als Schutz nehmen können.
An Tagen wie diesem will das Ich, das ich jetzt bin, sich am liebsten einfach in eine Ecke hocken und die Arme um den Kopf schlingen. Es gibt keine Faser meines Körpers, die keine Angst hat. Weit und breit kein Ich, das weiß, was zu tun ist. Ich tue doch schon mein Bestes, mehr geht nicht.
8. Dezember
Heute Mittag ist Gav mit einer Packung Makkaroni, einem Glas Nudelsoße und einem blauen Auge aufgetaucht.
»Was ist passiert?«, fragte ich, als ich ihn hereinließ.
Er lief schnurstracks in die Küche, warf das Essen auf die Theke und schnappte sich einen Topf. »Meine Schuld«, erklärte er. »Sie haben mir gesagt, dass Warren gestern Abend angefangen hat zu halluzinieren. Aber ich wollte trotzdem zu ihm. Er hat mich nicht erkannt. Und für wen auch immer er mich gehalten hat, es war
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