Wir sind verbannt (German Edition)
auf jeden Fall jemand, den er nicht ausstehen konnte.«
»Das tut mir leid«, sagte ich, und die Worte schienen mir völlig ungenügend. Gav lächelte mich ein bisschen gequält an und begann, die Schränke zu durchstöbern. Ich zeigte ihm die Gewürze.
»Danke«, sagte er und küsste mich so flüchtig, dass ich nicht mal Zeit hatte, es richtig zu spüren. Dann füllte er rasch Wasser in den Kochtopf und drehte hektisch an den Herdknöpfen. Jede seiner Bewegungen drückte aus, dass er nicht darüber reden wollte. Also überließ ich ihn dem Kochen.
Als die Nudeln schließlich fertig waren, schien er etwas ruhiger. Obwohl er immer noch nicht viel sagte. Wir brachten alle vier die Mahlzeit hinter uns, ohne dabei mehr als zehn Worte zu sprechen. Nachdem wir fertig waren, bot Tessa an, sich um das Geschirr zu kümmern, und stellte Meredith als Helferin zum Abtrocknen ein. Gav blickte sich um und fragte plötzlich: »Von hier aus kann man doch das Festland sehen, oder?«
Wir gingen hinauf in Merediths Zimmer, und ich gab ihm das Fernglas. »Ich hab’s geschafft, jeden Tag wenigstens fünf Minuten durchzugucken«, sagte ich und versuchte hoffnungsvoll zu klingen. »Es ist schwer, etwas zu erkennen, aber abends gehen Lichter an, also müssen da irgendwo Menschen sein.«
»Die Patrouillenboote liegen ja immer noch da«, stellte er fest.
»Ja«, erwiderte ich. »Ich glaube, sie sind jetzt näher am Festland – wegen des Wetters wahrscheinlich. Aber ich hab sie die ganze Woche über nicht in Bewegung gesehen.«
Er blickte eine Zeitlang hinaus. Dann ließ er das Fernglas sinken und setzte es auf dem Fensterbrett ab.
»Als wir das erste Mal miteinander gesprochen haben«, sagte er, »hast du mir gesagt, die Regierung würde sich um uns kümmern. Glaubst du jetzt immer noch, dass sie zu uns rüberkommen werden?«
»Irgendwann müssen sie etwas unternehmen«, antwortete ich. »Irgendwann wird jemand fragen, warum sie schon so lange nichts von uns gehört haben, und versuchen nachzusehen, was passiert ist.«
»Irgendwann«, sagte er. »Das kann noch ganz schön lange dauern.«
»Ich weiß.«
Ich trat näher an ihn heran, legte ihm meine Hand auf den Arm und blickte über die Meerenge. Im Nebel sah es so aus, als würden die Gebäude hinter dem Wasser mit dem Grau des Himmels verschmelzen.
»Was würdest du tun, wenn alles ganz normal wäre?«, fragte ich. »Wenn es keine Quarantäne gäbe und kein Virus?«
Er zögerte. »Mich gerade so viel reinhängen, damit ich im Unterricht mitkomme«, antwortete er. »Abends verrückte Jobs annehmen, damit ich genug Geld verdiene, um mich hier zu verpissen, sobald ich meinen Abschluss in der Tasche habe. Versuchen, Warren davon zu überzeugen, mit mir zu kommen.« Er hielt inne, und sein Schweigen war herzzerreißender als alles, was er vielleicht noch hätte sagen können. Dann legte er den Arm um meine Hüfte. »Und wahrscheinlich darauf hoffen, dass ein gewisses Mädchen mich ebenfalls begleitet«, fügte er noch hinzu.
Ich lächelte, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. »Glaubst du denn, du hättest überhaupt Notiz von mir genommen, wenn ich nicht das Mädchen mit dem Insiderwissen über die Epidemie gewesen wäre?«
»Aber klar«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. »Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, ohne dich auszukommen.« Damit drehte er sich zu mir, zog mich näher heran und beugte sich vor, um mich zu küssen.
Er sagte das so leicht dahin, als könne es daran keinerlei Zweifel geben, aber ich bin mir nicht sicher. Ich weiß gar nicht, ob ich mich ihm überhaupt geöffnet hätte, wenn ich nicht gesehen hätte, wie er aktiv wurde, als es mit der Stadt langsam bergab ging. Ich hoffe, wir wären so oder so ein Paar geworden, dass unsere Gefühle über diese furchtbaren Umstände hinausgehen, die uns zusammengebracht haben, doch keiner von uns beiden kann dafür garantieren.
Vielleicht spielt das aber auch gar keine Rolle. Denn als er mich küsste und ich seinen Kuss erwiderte, war es mir egal. Und ein paar Minuten lang hatte ich keine Angst mehr davor, wie weit weg »irgendwann« wohl noch sein würde.
10. Dezember
Letzte Nacht mussten wir einen kleinen Ausflug machen.
Meredith weckte mich kurz nach Mitternacht mit einem plötzlichen Schrei. Albträume. Zuerst brauchte ich eine ganze Minute, bis ich sie überhaupt richtig wach hatte, und dann schluchzte sie so heftig, dass es noch einmal fünf Minuten dauerte, bevor ich verstand, was sie da
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