Wir sind verbannt (German Edition)
Leute ihre Medikamente aufbewahren könnten, würde ich sagen«, antwortete Tessa. »Badezimmer? Küche?«
»Und in den Schlafräumen«, fügte ich hinzu.
»Einverstanden«, sagte sie. »Also checken wir zuerst mal alle Bäder und Schlafzimmer und die Küche. Und dann den Rest.«
Wir schlichen von Zimmer zu Zimmer, öffneten Schranktüren und Schubladen, wie bei einer bizarren Ostereiersuche. Jede Packung Aspirin oder Halstabletten, auf die ich stieß, versetzte mich in leichte Erregung. Alles wanderte in die Papiertüte, die Tessa mitgebracht hatte. Sobald irgendwas im Entferntesten nach Medizin aussah, ließen wir es darin verschwinden, auch wenn wir nicht wussten, wofür es überhaupt gut war.
»Besser zu viel als zu wenig«, sagte Tessa.
Nach den ersten paar Häusern kam ich mir nicht mehr so komisch vor. Du machst dir keine Vorstellung, was diese Sommergäste so alles horten – allein schon das, was sie hier zurückgelassen haben! Eins der Häuser war ein echter Volltreffer: Schmerzmittel, Beruhigungspillen, einige Tuben mit irgendwas, das Tessa für Antipilzsalbe hielt, und noch ein ganzer Haufen anderer Tabletten.
Wir haben zwanzig Häuser abgeklappert und zwei große Tüten voll zusammenbekommen. Tessa hat mit Edding EINE FREUNDLICHE SPENDE draufgeschrieben, und dann sind wir schnell zum Krankenhaus gefahren. Tessa sah so todernst aus, als sie aufs Gaspedal trat, dass ich direkt anfangen musste zu lachen.
Ich stellte mir vor, wie seltsam das für dich aussehen müsste, wir zwei als Komplizinnen, und dann kam mir der Gedanke, dass du sicher stolz auf Tessa wärst, weil sie die Idee hatte, und der Magen sackte mir nach unten, als wären wir gerade über ein Schlagloch gefahren. Die Frage rutschte mir einfach so raus:
»Wie ging es Leo, als du das letzte Mal mit ihm gesprochen hast?«
»Gut«, antwortete Tessa. »Er ist total von dem neuen Partner begeistert, mit dem er zusammenarbeitet. Die Schule ist genau, wie er es sich vorgestellt hat, und die Stadt gefällt ihm auch super. Ich bin so froh, dass er jetzt nicht hier in diesem ganzen Schlamassel steckt.«
Und ich bekam ein schlechtes Gewissen, als wäre es ganz furchtbar von mir gewesen, dass ich vorhatte, dein Glück zu stören, indem ich dich wissen lassen wollte, was hier los ist. Ich denke bloß, dass du ein Recht hast, es zu erfahren. Ich will ja trotzdem, dass du in Sicherheit bleibst.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich antwortete. Irgendwas Unbestimmtes wie »Das ist gut«, und dann waren wir auch schon wieder bei Tessa zu Hause. Sie lächelte mich an, und mein Magen entkrampfte sich wieder ein bisschen.
»Ich habe noch ’ne Menge andere Schlüssel«, sagte sie. »Gib mir einfach Bescheid, wenn du noch mal loswillst.«
Weißt du was? Ich glaube, ich freu mich drauf. Und das ist nun wirklich seltsam.
9. Oktober
Als ich heute Morgen die Augen aufschlug, wäre ich am liebsten einfach im Bett liegen geblieben, bis die Sonne wieder untergeht. Vielleicht hätte ich das auch tun sollen. Wahrscheinlich wäre der Tag dann ein besserer geworden.
Aber ich stand auf. Ich malte mir weitere fünfzehn Stunden aus, in denen ich deprimierende Fernsehberichte ansehen und in meinen Büchern für die Schule vorarbeiten würde, die vielleicht nie mehr wieder ihre Pforten öffnete. Dann erblickte ich plötzlich Meredith, die auf ihrer Klappliege neben mir kauerte, ganz stumm und mit tränenüberströmtem Gesicht.
Wie komme ich nur dazu, mich über mein Leben zu beklagen, wo sie es doch so viel schwerer hat? Ich hab doch wirklich noch Glück.
Ich setzte mich neben sie und nahm sie in den Arm, und als sie aufhörte zu weinen, sind wir nach unten gegangen und haben Frühstück für uns beide gemacht. Dabei sah sie die ganze Zeit so unheimlich ernst aus. Ab und zu begann ihre Unterlippe zu zittern, und ich befürchtete, sie würde gleich wieder anfangen zu weinen.
Ich wollte nicht, dass sie traurig ist. Ich wollte dafür sorgen, dass es ihr bessergeht. Aber selbst ich bin noch immer ganz aufgewühlt, wenn ich an Onkel Emmet denke. Ich konnte nur versuchen, sie möglichst irgendwie auf fröhlichere Gedanken zu bringen.
»Hast du Lust auf einen Spaziergang?«, fragte ich sie. »Komm, wir gehen einfach ein bisschen raus, ja?«
Ich dachte, wir könnten einen Zwischenstopp beim Supermarkt einlegen und uns etwas Süßes kaufen. Die meisten Geschäfte sind geschlossen worden, als die Quarantäne anfing, aber dieses hatte noch geöffnet, als ich das letzte Mal
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