Wir sind verbannt (German Edition)
miteinander reden können, ohne dabei Schutzmasken zu tragen. Und ich will, dass niemand mehr stirbt.
13. Oktober
Heute sollte eigentlich unser Thanksgiving-Essen stattfinden. Mom überraschte uns mit einem Truthahn, den sie schon seit gestern heimlich aufgetaut hatte. Sie muss ihn noch gekauft haben, bevor Gavs Bande den Supermarkt geplündert hat.
»Es gibt eine Menge, wofür wir dankbar sein müssen«, sagte sie. »Wir fünf sind alle noch gesund, und euer Vater macht Fortschritte mit dem Impfstoff.«
Ehrlich gesagt, haben wir mehr zu klagen, als zu feiern, aber es tat gut, sie lächeln zu sehen. Also erklärte ich mich bereit, beim Kochen zu helfen, und Meredith wollte auch mitmachen. Drew drückte sich und sagte, er müsse noch etwas am Computer erledigen, aber ich sah ihn kurz darauf zur Hintertür hinausschlüpfen.
Schon bald nach dem Mittagessen fingen wir mit den Vorbereitungen für das festliche Abendessen an, obwohl Dad angekündigt hatte, dass er frühestens gegen sechs zu Hause sein würde. Mom bereitete am Backofen den Truthahn vor. Ich schälte neben der Spüle die Kartoffeln. Meredith deckte den Tisch.
Ich erklärte ihr gerade, dass sie die normalen Messer und Gabeln nehmen solle, weil wir keine besonderen für Festtage haben, als Mom plötzlich ganz still wurde.
Bevor ich sie überhaupt fragen konnte, was los war, lief sie schnurstracks aus der Küche. Der Truthahn lag da auf dem Schneidebrett, und die halbe Füllung war noch in der Schüssel. Zuerst dachte ich, sie müsste vielleicht mal zur Toilette. Doch als ich mit den Kartoffeln fertig war und das schmierige Gefühl von den Fingern gewaschen hatte, war sie immer noch nicht wieder zurück. Meredith wollte wissen, was sie jetzt noch tun könnte, nachdem der Tisch fertig gedeckt war.
»Willst du nicht eine kleine Pause machen?«, antwortete ich ihr. »Du kannst eine Runde Nintendo spielen, wenn du magst.«
Unten war Mom nirgends zu finden, und das Bad war leer. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war geschlossen. Ich klopfte an.
»Nicht reinkommen«, sagte sie sofort.
»Was ist denn los?«, fragte ich. »Brauchst du irgendetwas?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich fühle mich nur gerade nicht ganz wohl. Ich muss mal ein bisschen für mich sein, ja?«
Sie hatte weder geniest noch gehustet, doch plötzlich war es mir klar. Sie befürchtete, das Virus zu haben. Ich verkrampfte mich am ganzen Körper.
Mom muss gespürt haben, dass ich noch immer dastand. »Mach dir keine Sorgen, Schatz«, sagte sie mit Nachdruck. »Geh wieder nach unten. Ich bin sicher, dass du zusammen mit Meredith den Rest des Abendessens hinbekommst. Ich ruhe mich in der Zeit ein bisschen aus.«
Ich machte kehrt und lief die Treppe hinunter, während mein Herz so laut pochte, dass ich kaum noch etwas anderes wahrnahm. Ich muss es Dad sagen, dachte ich. Das war alles, was ich denken konnte, immer wieder: Hol Dad, hol Dad. Er würde wissen, was zu tun war.
Hätte ich es Meredith erzählt, hätte sie bloß Angst bekommen, also sagte ich ihr, ich würde nur mal kurz weggehen und sie solle ihr Spiel weiterspielen. Länger als eine halbe Stunde würde es nicht dauern, dachte ich. Zum Krankenhaus fahren, mir Dad schnappen, zurückfahren. Ich nahm die Schlüssel vom Haken und ging zum Auto.
Auf dem ganzen Weg dahin hetzte mein Herzschlag mir die Gedanken nur so durchs Hirn. Mom konnte doch nicht wirklich krank sein. Sie zeigte gar keine Symptome. Sie war bestimmt nur überängstlich und extra vorsichtig. Genau das würde Dad feststellen. Er würde ihr sagen, dass sie gesund war, sie würde sich beruhigen, und wir würden ein ganz normales Thanksgiving-Essen haben. Und dann fiel mir wieder ein, wie sie plötzlich ganz starr dagestanden und ohne ein Wort die Küche verlassen hatte, und mein Puls trommelte noch lauter, und ich musste mir diese Geschichte immer wieder aufs Neue einreden.
Es war vermutlich ein Wunder, dass ich es schaffte, nicht gegen einen Telefonmasten oder einen Hydranten zu fahren. Aber ich erreichte das Krankenhaus in einem Stück. Der Parkplatz war völlig überfüllt. Ich schlängelte mich zweimal durch die Reihen und suchte nach einer Parklücke. Ich hatte den Platz noch nie dermaßen voll gesehen. Auf einigen Autos lag eine feine Staubschicht, so als stünden sie da schon wochenlang, ohne benutzt worden zu sein.
Vielleicht sind sie das ja auch nicht. Vielleicht sind die Leute, die sie dahin gefahren hatten, bis jetzt nicht wieder aus dem Krankenhaus
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