Wir sind verbannt (German Edition)
tun würde, den ich nicht besonders gut kenne. Ich glaube, sie hat bis jetzt noch nicht allzu viel Zeit mit Kindern verbracht. Aber sie hat sich wirklich Mühe gegeben, nicht dass du mich falsch verstehst, Leo.
Das ist also nun aus uns geworden. Wir bilden eine etwas seltsame Art neue Familie. Ich war beinahe glücklich, bis mein Blick auf die drei leeren Stühle fiel und ich dachte, Drew müsste eigentlich auf einem davon sitzen und Mom auf dem nächsten, da erfüllte plötzlich ein wohlbekannter Schmerz wieder meine Brust.
Drei Wochen krank, und ich habe das Gefühl, eine Ewigkeit verpasst zu haben.
14. November
Jetzt weiß ich also, was es war, das Gav mir gestern nicht erzählen wollte.
Heute Morgen nach dem Frühstück sagte Tessa, sie würde mich rüber zu unserem Haus bringen, damit ich meine Sachen holen konnte. Ich wäre auch selbst gefahren, aber ich weiß nicht genau, wo Dad unser Auto gelassen hat, und Tessas Wagen hat keine Automatik-Schaltung, so dass ich ihn nicht hätte fahren können, selbst wenn sie ihn mir geliehen hätte. Laufen kam auch nicht in Frage, weil ich manchmal noch ziemlich schwach bin. Wir besprachen mit gedämpfter Stimme, was mit Meredith passieren sollte. Da wir nicht wussten, wem wir unterwegs so alles in die Arme laufen würden, entschieden wir schließlich, dass es sicherer für sie wäre, im Haus zu bleiben und die Tür abzuschließen. Ein Glück.
»Macht es dir auch wirklich nichts aus?«, fragte ich Tessa auf der Fahrt. »Dass wir uns, na ja, irgendwie bei dir einnisten? Jetzt, nachdem ich aus dem Krankenhaus raus bin, könnten Meredith und ich auch bei uns wohnen.«
»Dein Dad hat doch gesagt, er wüsste nicht, wie sicher euer Haus ist«, antwortete Tessa. »Weil du und deine Mom dort beide krank geworden seid. Bei mir ist noch niemand krank geworden. Da ist es nur vernünftig, dass Meredith bei mir bleibt und du zu ihr kommst. Wir haben jede Menge Platz.«
»Aber es ist euer Haus«, erwiderte ich. »Du musst das nicht tun, bloß weil es vernünftig ist.«
Sie zögerte einen Moment und antwortete dann: »Ich mag es auch irgendwie, wenn noch jemand da ist. Es ist manchmal ziemlich still im Haus.«
Sie wirkt immer so diszipliniert und gefasst, dass ich gar nicht mehr daran gedacht hatte, dass sie vielleicht einsam sein könnte. Aber klar, es ist ja schon Wochen her, dass sie das letzte Mal mit ihren Eltern sprechen konnte, oder mit dir, Leo – schon seit die Fernverbindungen und das Internet nicht mehr funktionieren. Ich wäre an ihrer Stelle bestimmt schon wahnsinnig geworden.
»Einverstanden«, sagte ich, »dann bringt es ja für uns beide was.« Und sie lächelte.
Während wir so fuhren, fielen mir einige Häuser auf, die mich an die Gang erinnerten, von der Gav erzählt hatte. Die Haustüren standen sperrangelweit offen, und die vorderen Fenster waren eingeschlagen. Als wir in unsere Straße einbogen, bekam ich plötzlich Angst, dass unser Haus vielleicht genauso aussehen könnte. Aber es war alles in Ordnung, alles, wie es sein sollte.
Ich sagte Tessa, ich würde lieber alleine hineingehen, zum einen, weil das Virus vielleicht noch irgendwo rumhing, zum anderen, weil ich mir nicht sicher war, wie sentimental ich reagieren würde. Doch als ich reinkam und mich umsah, wusste ich plötzlich gar nicht mehr, weshalb ich solche Angst gehabt hatte, etwas zu verlieren. Tessa hatte mir gesagt, dass sie schon alle Lebensmittel zu ihr gebracht hatten, also lief ich direkt in mein Zimmer. Ich blieb einen Augenblick in der Tür stehen und überlegte, ob mir irgendetwas von meinen Sachen so wichtig war, dass ich es riskieren würde, damit das Virus mitzuschleppen.
Schließlich stopfte ich eine Mülltüte mit den Klamotten, die mir am nützlichsten erschienen, voll und klebte sie gut zu, so dass ich die Sachen gleich in die Waschmaschine stecken konnte, sobald wir bei Tessa ankamen. Dann warf ich den iPod zusammen mit meinem Kojoten-Notizbuch und einigen anderen Heften, in denen ich Aufzeichnungen über irgendwelche Beobachtungen gemacht hatte, einer Anleitung zum Überleben in der Wildnis, die ich mal zur Vorbereitung für meine Forschungsexpeditionen bekommen hatte, und dem gerahmten Foto von Mom, Dad, Drew und mir, das Tante Lillian vor ein paar Jahren unten am Strand aufgenommen hatte, in meinen Rucksack. Mein Blick blieb einen Moment zu lang auf Mom und Drew hängen, und ich musste heftig blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten, als ich das Foto wegsteckte.
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