Wir sind verbannt (German Edition)
und ich musste gegen den Drang ankämpfen, geradewegs aus dem Krankenhaus zu laufen und erst dann wieder stehen zu bleiben, wenn ich am Rande des Steinbruchs ankam, erst wenn ich Mom inmitten des Leichenberges gefunden hatte. Um sie ein letztes Mal zu sehen. Ich weiß, es klingt grausig, aber ich glaube, es gibt eine Trauer, über die kann man einfach nicht hinwegkommen, wenn man nur die Erzählungen anderer Leute hat. Wenn man den Toten nicht mit eigenen Augen gesehen hat oder dabei war, als der Sarg in der Erde versenkt wurde. Man wird das Gefühl nie los, dass vielleicht alles bloß ein Riesenirrtum war, als hätten sie alle unrecht und es wäre überhaupt niemand gestorben.
Selbst Tiere erweisen ihren Toten die letzte Ehre. Elefanten wachen bei ihren ums Leben gekommenen Freunden und Angehörigen. Gorillas brüllen und schlagen sich auf die Brust. Aber Mom hatte nichts dergleichen. Man hat sie einfach nur zusammen mit vielen anderen in eine Grube geworfen, wie die Opfer eines Völkermords. Wie Müll. Wie konnten wir ihr das nur antun?
In gewisser Weise unterscheidet sich das gar nicht so sehr von dem, was ich gestern erlebt habe. Ein mikroskopisch kleines Virus reicht, und schon verhalten sich sogar Menschen, die gar nicht krank sind, wie Massenmörder.
Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder und schluckte all die wütenden, verletzenden Worte herunter, die ich hätte sagen können. Nell kann schließlich nichts dafür. Wirklich nicht. Und es gibt Schlimmeres, über das man sich aufregen könnte. Zum Beispiel über die Tatsache, dass Drew verschollen ist, vielleicht tot da draußen im Meer treibt oder irgendwo an der Festlandküste zerschmettert wurde. Wo Mom ist, weiß ich jetzt wenigstens.
Ich blickte dem Mann mit der Transportliege nach, während er durch den Haupteingang verschwand. »Hat er denn gar keine Angst, sich anzustecken?«, fragte ich nach einer Weile und versuchte, das Thema zu wechseln. Er trug eine Maske und Schutzkleidung wie alle anderen auch, aber so vielen Leichen so nahe zu kommen war auf jeden Fall riskant.
Nell lächelte traurig. »Mit Howard ist es dasselbe wie mit dir, Kae«, antwortete sie. »Er hat sich schon früh mit dem Virus angesteckt und war unser erster Überlebender. Deshalb hat er den Job übernommen.«
Dad hat mir erzählt, dass ich die fünfte bin, die es geschafft hat, und dass die Frau, mit der ich mir das Zimmer teilte, die sechste sein würde, aber irgendwie hatte sich der Gedanke bei mir noch nicht richtig gesetzt. Es gibt wirklich noch andere Menschen, die das Virus besiegt haben. Lebende Beweise dafür, dass wir das können.
Dad hat auch gesagt, wir hätten einfach Glück gehabt. Aber das ist nur so ein Spruch, denn in der Wissenschaft bedeutet Glück haben nichts anderes, als dass man den wahren Grund noch nicht herausgefunden hat.
Plötzlich hatte ich eine Idee. »Nell«, sagte ich, »es gibt doch Krankenakten von allen Patienten, oder?«
»Natürlich«, antwortete sie. »Obwohl wir es nicht ganz geschafft haben, sie so in Ordnung zu halten, wie wir das normalerweise tun. Das Archiv ist gegenüber vom Empfang. Warum?«
»Könntest du die Namen der Leute, die wieder gesund geworden sind, für mich aufschreiben?«, fragte ich.
Sie runzelte die Stirn. »Kaelyn«, sagte sie. »Du weißt doch, dass dein Dad die alle schon ein Dutzend Mal durchgegangen ist. Er hat nichts gefunden.«
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber vielleicht tut ein unverbrauchtes Paar Augen ganz gut. Kann ja nichts schaden, wenn ich auch noch mal einen Blick darauf werfe.«
Also nannte sie mir den Code für die Tür zum Archiv, gab mir die Namen der anderen fünf Patienten, die wieder genesen waren, und überließ mich dann meiner Arbeit. Was die Unordnung anbetraf, hatte sie recht gehabt – die Schränke quollen über, Aktenmappen stapelten sich obendrauf oder waren einfach an die falschen Stellen gestopft worden. Aber eine halbe Stunde später hatte ich die Unterlagen von uns sechs Überlebenden ausgegraben. Ich saß auf dem Boden, ging sie solange durch, bis die winzige Schrift begann, mir Kopfschmerzen zu verursachen, und steckte sie daraufhin alle zusammen in den freien Raum zwischen den Aktenschränken, damit ich sie das nächste Mal gleich finden würde.
Bis jetzt habe ich absolut nichts entdeckt, das uns verbindet, das irgendwie erklären würde, warum wir überlebt haben und all die anderen nicht. Aber ich werde weitersuchen. Es muss einfach etwas
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